Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung; Differentielle Psychologie der Kommunikation (German Edition)
Erstaunen nicht zu sparen; vielleicht gerät er auch, besonders wenn er aus ähnlichem Holze geschnitzt ist, unter Druck «mitzuhalten». Beides kann die Beziehung schwierig machen, ich komme darauf im systemischen Teil zurück.
Der/die sich Beweisende steht unter permanentem Druck: Sich nach außen hin vollkommener zu geben, als einem innerlich zumute ist, kostet viel psychische Kraft, und so ist es wohl kein Zufall, dass Mock (1986) in ihren Tiefeninterviews mit Alkoholiker/innen immer wieder auf dieses Motiv der Selbstperfektionierung stieß (S.111):
«Ich war nach meiner Einschätzung ein ganz Großer, ein ganz Starker …» (Facharbeiter, 50 J.)
«Vor allen Dingen war ich ja immer bestrebt, möglichst makellos zu sein, alles perfekt zu machen in jeder Beziehung. Ob das im Beruf war, mein Verhältnis zu meiner Umgebung … Ich wollte eben hundertprozentig mein Leben meistern.» (Industrie-Kauffrau, 52 J.)
Ein derartiger «hausgemachter» Stress wird verstehbar, wenn man ein seelisches Axiom unterstellt, das den Selbstwert von der hergezeigten Leistung abhängig macht:
«Ich selbst bin nicht (liebens)wert – nur in dem Maße, wie ich «gut» bin, verdiene ich Liebe und Anerkennung.»
Ein Kind, das sich nicht um seiner selbst willen geliebt fühlt, muss frühzeitig auf Erfolg setzen und lebt unter dem Damoklesschwert der Niederlage. Die Spitze dieses Schwertes bekommt es nur allzu häufig in Form von Herabsetzungen und Entmutigungen zu spüren: «Was, das kannst du nicht? Sag mal, was kannst du überhaupt?!»
Solche Sätze, die von Eltern oder Lehrern gedankenlos oder vielleicht auch mit dem Ziel, das Kind «anzuspornen», ausgesprochen werden, können durchaus diesen Effekt haben – allerdings mit der «Nebenwirkung» einer Persönlichkeit, die sich ständig in Beweisnot wähnt. Zwischen Entmutigung und Ehrgeiz hin- und hergerissen entsteht der Wunsch, «es ihnen zu beweisen». Und nicht nur ihnen! Vielleicht sind sie längst tot oder außer Reichweite, aber die Beweisnot bleibt, und andere Menschen treten an ihre Stelle – genauer ausgedrückt: werden in den Versuch, es sich selbst zu beweisen, eingespannt. Typischerweise spüren wir die Selbstzweifel nicht in uns selbst, sondern projizieren sie auf andere Menschen, in deren «zweifelndem Blick» wir uns gespiegelt sehen. Um diesen in einen anerkennenden Blick zu verwandeln, bieten wir alles auf, was wir zu bieten haben – und möglichst etwas mehr.
Angenommen, die Rechnung geht auf und wir erhalten die ersehnte Anerkennung, vielleicht gar Bewunderung: Liegt darin nun eine heilsame Chance? Tragischerweise meistens nicht, denn diese Anerkennung gilt ja nur der vorgezeigten Schokoladenseite; die verborgene Rückseite meines Wesens erfährt keine Annahme, das seelische Axiom stabilisiert sich in einem internen Erfahrungskreislauf:
So hat der sich Beweisende noch im Augenblick des Beifalls ein Gefühl von «Wenn ihr mich kennen würdet, wie ich wirklich bin, dann wäre ich doch völlig unterdurch!» im Nacken. Überhaupt neigt er in seiner Selbsteinschätzung zu extremen Schwankungen: Da ist die jubilierende Euphorie, der oder die Größte zu sein – und nur wenig später der Katzenjammer einer gescheiterten Existenz. Auffällig ist, dass das Gefühl von Durchschnittlichkeit und Mittelmäßigkeit nicht vorkommt; als ob die Devise lauten würde: Wenn schon nicht der Größte, dann wenigstens der größte Versager!
«Wenn ich schon nicht gut sein kann, dann will ich wenigstens ganz schlecht sein, und wenn ich schon kein Heiliger bin, dann will ich ein guter Verbrecher werden.» (Büroangestellte, 39 Jahre, s. Mock, 1986)
Die charakteristische Spannung in der Selbsteinschätzung kann man sich bildlich so vorstellen: Da ist im seelischen Raume ein Gummiband gespannt, das den oberen Pol (der Großartigkeit) mit dem unteren Pol (der Minderwertigkeit) straff verbindet! Dann und wann kommt es vor, dass das Gummiband sich oben oder unten aus der Halterung löst: Dann schnellt es nach ganz unten oder ganz oben. Nur im entspannten Zustand ist es nie, weil die Pole so weit auseinander liegen.
Die Lebensweisen, die dieser inneren Spannung entsprechen, können im Einzelfall sehr unterschiedlich sein. Ein übervoller Terminkalender kann zum täglich sichtbaren Symbol der eigenen Wichtigkeit werden und einen ruhelosen Aktionismus begründen: immer auf Leistungsachse, unentbehrlich hier, dringend benötigt dort. Menschen, die von dieser Strömung erfasst sind,
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