Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung; Differentielle Psychologie der Kommunikation (German Edition)
werden klare Anweisungen keinen Untertanengeist züchten, sondern – im Gegenteil – den Mut, sich einer Autorität zu widersetzen, erst ermöglichen.
TZI hat mit seinen Strukturen und Regeln jenes Kind gerettet, das wir auf der Suche nach einer emanzipatorischen Pädagogik zunächst mit dem autoritären Bade ausgeschüttet hatten. Die Aufgabe für den Gruppenleiter und Pädagogen wurde damit nicht einfacher, sondern eher schwieriger – die Rolle des «partizipierenden Leiters» erforderte eine Integration von Handwerkszeug und persönlicher Substanz auf hohem Niveau – aber der Kompass war nun richtig eingestellt, denn, wie Ruth Cohn sagt: «Die Utopie ist der Kompass, und der Weg ist das Ziel! – und ein Millimeter in die richtige Richtung ist mehr wert als drei Meter in die falsche!»
Halten wir das in diesen Gedanken implizierte Wert- und Entwicklungsquadrat fest:
Selbstkontrolle und Sich-Zulassen. Die Behandlung, die ich anderen Menschen zuteil werden lasse, steht in engem Zusammenhang mit der Art, wie ich mit mir selbst umgehe; eine tiefgreifende Persönlichkeitsentwicklung wird beide psychischen Aktivitäten gleichzeitig umfassen. Wenn ich dazu neige, meine Mitmenschen zu kontrollieren und zu lenken, zu erziehen und zu schulmeistern, sie unter Druck zu setzen, bloß alles richtig zu machen – dann wird auch in mir selbst ein Kontrollwächter sein, der mich kritisch beäugt, an die Kandare nimmt und mir so leicht nichts durchgehen lässt.
Mit Sätzen wie
– «Man muss immer … (gerecht, pünktlich, zuverlässig …) sein!»,
– «Du solltest jetzt aber …»,
– «Du kannst doch nicht einfach …»,
– «Reiß dich zusammen, Haltung bewahren!»
hat er mich fest im Griff – Selbstdisziplin und Selbstkontrolle lauten die überwertig gelebten Tugenden dieser Daseinsform, sich ständig und vollständig «in der Gewalt» zu haben, gilt als Persönlichkeitsideal. Um die starke Kontrolle etwas lockern zu können, müsste der Bestimmende mit der gewaltigen Angst fertig werden, die dann frei würde und die sich in frühkindlicher Prägung an die vitalen Impulse geheftet hat: «Wehe, wenn sie losgelassen …!» Es ist die Angst, «sich zu vergessen», Ausbrüchen von unkontrollierbarer Wucht ausgesetzt zu sein – wer weiß, was aus der Schlangengrube alles hochzüngelt und zischt: Aggressionen von mörderischer Gewalt vielleicht, unbezähmbare sexuelle Gier oder andere sündige Urgewalten? Vielleicht auch nur starke Gefühle überhaupt, die einen überschwemmen und denen man dann ausgeliefert ist? Die Angst vor Kontrollverlust kann wohl am ehesten überwunden werden, wenn der zwanghafte Mensch im Begleitschutz eines Sicherheit ausstrahlenden Therapeuten die Kontrolle schrittweise, punktuell und vorübergehend abgibt und dann immer mehr von dem zulassen kann, was in seiner inneren Welt aufkommt.
Die «zunehmende Offenheit gegenüber der (inneren) Erfahrung» ist nach Carl Rogers (1979) das wichtigste Prozessmerkmal einer erfolgreichen Therapie. Während der überkontrollierte Mensch vorher viel Energie einsetzte, alle Gefühle und Impulse abzuwehren, die seinem starren Selbstkonzept widersprachen, lernt er nun, auch und gerade diese «nicht-linientreuen Gefühle» zuzulassen und mit der Zeit auch willkommen zu heißen:
«Das Bewußtsein ist nicht länger der Wächter über einen gefährlichen und undurchschaubaren Haufen von Impulsen, die nur im Ausnahmefall das Tageslicht erblicken dürfen, sondern wird zum geruhsamen Mitbewohner einer Gesellschaft von Impulsen, Gefühlen und Gedanken, die sich, wie man feststellt, sehr wohl selbst regulieren können, wenn sie nicht ängstlich behütet werden.» (Rogers 1979, S.125)
In einem solchen therapeutischen Prozess wird ein Teil der Affektkontrolle, die den «zivilisierten Menschen» ausmacht, wieder rückgängig gemacht – und zwar jener Teil, der über das Ziel hinausschießt, indem er nicht nur die menschlichen Handlungen, sondern auch die Gefühle und Bedürfnisse durch «innere Anstandsregeln» reglementiert. Die Dressur scheint perfekt, aber der in dieser Weise sozialisierte, durch und durch anständige, korrekte, prinzipien- und gesetzestreue Mensch sitzt auf einem seelischen Pulverfass: Da er dem Unanständigen und Aggressiven, dem Kindlich-Bedürftigen und dem Angstvollen in sich keinen Raum hat geben können, bleibt es unentdeckt, unentwickelt, unintegriert – und plötzlich gilt tatsächlich: Wehe, wenn es losgelassen …
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