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Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung; Differentielle Psychologie der Kommunikation (German Edition)

Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung; Differentielle Psychologie der Kommunikation (German Edition)

Titel: Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung; Differentielle Psychologie der Kommunikation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedemann Schulz von Thun
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verinnerlichen, werden auch sie als Erwachsene diesen Verfolger und Wächter gegen ihre eigenen Kinder einsetzen. Wenn das, was man bei sich selbst nur mit Mühe und Verkrampfung zum Verstummen gebracht hat, im anderen laut wird – oder auch nur leise anklingt –, so ist das ein schmerzhafter, ruhestörender Lärm, mehr noch: eine dreiste Fahne der Provokation, die den gerechten Zorn und den Fanatismus des Tugendwächters herausfordert, der prompt antritt, all dies erneut zum Verstummen zu bringen. Dieser Mechanismus der Projektion lässt die eigenartige Tendenz der Menschen verstehen, ihre eigene Verbogenheit zum Ideal zu erheben und andere daran zu messen, zu beurteilen und zu «behandeln». Indem das Kind mit diesen Maßstäben konfrontiert wird, beginnt es jene unselige Differenz zwischen «So bin ich» und «So sollte ich sein» zu spüren, die wiederum den Grundstein für Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle, den Grundstein für die eigene Verbogenheit legt. Soweit wir von der bestimmenden Strömung regelhaft durchdrungen sind, stellen uns nun die Vertreter der pädagogischen Gegenbewegung aufregende Lektionen bereit:
    «Unsere Aufgabe als Erzieher ist es nicht, unsere Kinder zu formen, sondern ihnen die Möglichkeit zu geben, sich zu offenbaren» (Maria Montessori). Während meines Studiums war ich sehr beeindruckt, wie mein Professor Reinhard Tausch eine nicht-direktive Pädagogik in seiner Praxis als Lehrer und Hochschullehrer umsetzte. So gab er einer Schulklasse von Zwölfjährigen Unterrichtsstunden über Italien oder über Picasso. Nachdem er sich als Ersatzlehrer vorgestellt und ein Bild von Picasso in den Raum gestellt hatte, «begnügte» er sich damit, die spontanen Eindrücke der Kinder nachzuvollziehen und zurückzuspiegeln, nach meiner Erinnerung etwa in der Art:
Mädchen: Man kann gar nichts erkennen!
Lehrer: Du bist erstaunt, dass du auf dem Bild gar nicht erkennen kannst, was es darstellen soll.
Mädchen: Höchstens Salat. (Lacht)
Lehrer: Tja, als ob alles durcheinanderginge.
Junge: Doch, da unten könnte man einen Hahn drin sehen.
Lehrer: Jetzt erkennst du etwas, einen Hahn – aber du zweifelst, ob er da gezeichnet ist oder ob du ihn nur hineinsiehst?»
Junge: Ja, so wie bei Wolken. – usw.
    Die Lehrer, denen wir solche Video-Bänder vorspielten, waren sehr erstaunt: Was wurde den Schülern denn hier «beigebracht»? Wurde nicht alles über den Haufen geworfen, was in ihrer Ausbildung eine Rolle gespielt hatte: die Art des Vorgehens in didaktischer und methodischer Hinsicht vom Lehrziel her zu bestimmen, die Schüler durch zielorientiertes Lehrgespräch zu bestimmten neuen Erkenntnissen hinzuleiten? Das selbstverständliche
    «Ich bringe euch dorthin, wo ihr aufgrund meines (und der Lehrplangestalter) pädagogischen Weitblicks hin sollt!»
    war hier grundlegend infrage gestellt und ersetzt durch eine Haltung des
    «Ich folge euch dorthin, wo ihr seid – mit euren Gedanken, Empfindungen, Gefühlen und persönlichen Werturteilen –, indem ich euch ernst nehme und zurückspiegele, was ich von euch verstanden habe, ermutige ich euch, weiterzudenken und euren Empfindungen zu trauen.»
    Eine solche Haltung hat nur Sinn im Zusammenhang mit der anthropologischen Überzeugung, dass bedeutsame Entwicklungsschritte sich «von selbst» vollziehen und nicht von außen «gemacht» werden können – förderliche zwischenmenschliche Bedingungen vorausgesetzt. Der Vorstellung vom «Bildhauer» wird hier völlig widersprochen, eher eignet sich das Bild von einem «Gärtner», der, anstatt an der Pflanze kräftig zu ziehen, nur die äußeren Bedingungen (Licht, Boden, Wasser) günstig gestaltet und sich ansonsten davor hütet, etwas zu stören, was nur aus sich heraus wachsen kann. Es war das Lebenswerk des 1987 verstorbenen Carl Rogers, die für die persönliche Entwicklung eines Menschen förderlichen zwischenmenschlichen Bedingungen erforscht und in Psychotherapie und Pädagogik vorgelebt zu haben. Ich will hier nur den wichtigsten Kerngedanken herausstellen, der für die nondirektive (klienten-, personenzentrierte) Gesprächspsychotherapie kennzeichnend ist: Ein Mensch verändert sich grundlegend nicht dadurch, dass ein «Profi» ihn nach den Regeln der Kunst diagnostiziert und «behandelt», sondern dadurch, dass ein anteilnehmender Mitmensch eine Beziehung zu ihm eingeht, die durch Echtheit, Akzeptierung und Empathie (Einfühlung) gekennzeichnet ist. Gemäß dem paradoxen Gesetz der Veränderung ,

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