Mithgar 10 - Die schwarze Flut
Missernten, Viehsterben und Seuchen auftraten. Aber das war fünf Jahre her und Vergangenheit. Der diesjährige Winter, die Wölfe und die seltsamen Vorkommnisse jedoch waren Gegenwart. Und unten im Gasthaus zur Einäugigen Krähe war nicht nur von den Schwierigkeiten im Nordtal die Rede, sondern auch von den Großen Leuten hoch oben in der Feste Challerain, die zum Krieg rüsteten, wie es schien. Gerade ließ sich Will Langzeh, der zweite Hilfswachtmeister von Osttal, vor einer höchst aufmerksamen Zuhörerschaft aus, denn Will versprach, aufgrund seines Verkehrs mit der »Obrigkeit« - nämlich verschiedenen Bürgermeistern im Osttal und dem Oberwachtmeister von Mittental -, mehr über die merkwürdigen Geschehnisse in der Fremde zu wissen als die meisten andern.
»Also, soviel ich von dem jungen Tobi Holder weiß, der es in Steinhöhen aufgeschnappt hat - die Holders treiben mit den Leuten von Steinhöhen Handel, seit die Sieben Täler gegründet wurden, sie kamen als Erste da hinauf in die Gegend von Weitimholz, heißt es -, jedenfalls ist in Steinhöhen der Befehl ergangen, Wagen zu sammeln, Hunderte von Wagen, und sie hinauf zur Feste zu schicken.«
Hunderte von Wagen? Hinauf zur Feste? Die Wurrlinge sahen einander erstaunt an. »Aber wofür denn, Will?«, fragte jemand aus der Menge. »Was wollen sie denn mit Hunderten von Wagen?«
»Leute nach Süden schaffen, möchte ich meinen, wo sie in Sicherheit sind«, antwortete Will.
Wie? Nach Süden schaffen? Jetzt, wo wilde Wölfe umherstreunen und alles? Will hob beide Hände, und das Geplapper verstummte. »Tobi sagt, Gerüchten zufolge versammelt König Aurion oben in der Feste seine Männer zum Krieg. Es heißt, sagt Tobi, dass die Großen Leute ihre Frauen, Kinder und Alten in Richtung Westen nach Wellen und in Richtung Süden nach Günar und Valon, ja sogar bis hinunter nach Pellar schicken.« Während Will einen tiefen Schluck aus seinem Bierkrug trank, nickten viele seiner Zuhörer, denn seine Aussagen schienen mit anderen übereinzustimmen, die sie schon früher gehört hatten.
»Aber was ist mit den Wölfen, Will?«, fragte Ted Kleeheu aus Weidental, der gerade in Waldsenken war, um eine Wagenladung Getreide auszuliefern. »Ich meine, ha'm die Großen Leute nich' Angst, dass die Wölfe ihre Reisegruppen anfallen, wo doch Winter ist und alles und die Rudel durchs Land streifen?« In der Zuhörermenge erhob sich allgemein zustimmendes Gemurmel, und Ted wiederholte seine Frage. »Was is' mit den Wölfen?«
»Da mögen wohl Wölfe sein, Ted«, antwortete Will, »aber Tobi sagt, die Großen Leute rüsten zum Krieg, und das bedeutet, sie werden einige Anverwandte an sichere Zufluchtsorte schicken, Wölfe hin oder her.« Will trank erneut einen kräftigen Schluck von seinem Bier. »Überhaupt schätze ich, dass die Wölfe eine große Reisegruppe nicht angreifen, denn es liegt in der Natur des Wolfs, dass er Jagd auf Schwache und Wehrlose macht.«
»Na ja«, erwiderte Ted, »aber wer ist schon schwächer und wehrloser als Kinder, irgendwelche alten Opas oder selbst Frauen. Ich kann mir nicht recht vorstellen, dass sie solche Leute nach Süden und Westen schicken, wo sie sich gegen Wölfe verteidigen müssen.«
Erneut gab es ringsum zustimmendes Murmeln, und Finius Handstolz, der Stellmacher, ergriff das Wort. »Ted hat glasklar recht. Man schickt seine Verwandtschaft einfach nicht zu den Wölfen raus; nicht mal die Großen Leute tun so was. Wenn du mich fragst, hört sich das wie 'ne Nachricht von Jenseits an.« Viele der Gäste in der Einäugigen Krähe pflichteten mit einem Kopfnicken bei, denn die Leute in den Sieben Tälern neigen zu Misstrauen hinsichtlich aller Nachrichten, die sie von jenseits des Spindeldorns, aus fremden Weltgegenden, erreichen. Deshalb bedeutete der Ausdruck Nachricht von Jenseits, dass sämtliche Informationen von jenseits der Grenzen, von Draußen, in hohem Maße verdächtig waren und dass man sie erst glaubte, wenn sie Bestätigung fanden; keineswegs galt eine solche Nachricht als siebentalsicher. In diesem Fall war die Nachricht von Jenseits ja tatsächlich von außerhalb des Dornwalls gekommen - aus Steinhöhen, um genau zu sein. »Wie dem auch sei, Finius«, erwiderte Will und fixierte den Stellmacher mit einem bohrenden Blick, »die Holders sind vertrauenswürdig, und wenn der kleine Tobi sagt, er hat gesehen, wie sie in Steinhöhen Wagen sammeln, um sie zur Feste hinaufzuschicken, und wie sie sich auf einen Strom von
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