Mithgar 11 - Die kalten Schatten
heilt der Trunk, du dummer Sack«, schnarrte der Erste, »nachdem wir ihn verbunden haben.«
Unsanft zogen die beiden Rukha der Prinzessin die stinkende Kleidung aus und zerrten sie dabei hierhin und dorthin. Als sie dann nackt war, schnitten sie mit einer eisernen Schere den Verband auf, der die Schiene an Ort und Stelle hielt. Und solange sie arbeiteten, weinte Laurelin leise und die Tränen verschmierten den Ruß in ihrem Gesicht.
Schließlich war der verletzte Arm freigelegt, und obwohl der Knochen bereits begonnen hatte, wieder zusammenzuwachsen - denn es waren dreiundzwanzig Tage vergangen, seit er gebrochen war -, legten die Rukha einen Verband um den Bruch an, indem sie Stoffstreifen in eine flüssige Paste tauchten und um den Arm der Prinzessin wickelten, wo sie rasch trockneten. Als die beiden fertig waren, reichte die steif gewordene Hülle von oberhalb des Ellenbogens bis über das Handgelenk. Und sie flößten ihr den scharfen, brennenden Trank ein, die gleiche feurige Flüssigkeit, die ihr die Ghola auf dem langen Ritt zu Modrus Eisernem Turm gewaltsam verabreicht hatten. Sie führten sie in einen anderen Raum und setzten sie in ein heißes Bad, und sie wuschen ihr mit grober Seife und rauen Händen die Haare und schrubbten ihr den Dreck aus dem Gesicht und vom restlichen Körper. Laurelin aber achtete kaum auf ihre gefühllosen Dienste.
In dieser Nacht schlief sie in einem Bett, doch sie träumte vom Eisernen Turm und wachte schreiend auf: »Vanidor!« Dann fiel sie weinend wieder in einen erschöpften Schlaf.
In ihren Träumen kam eine Elfe mit goldenen Haaren zu ihr und tröstete sie.
Und dann stand ein Elf mit traurigen Augen vor ihr. Bist du Vanidor? Bist du Gildor?
Aber der Elf sagte nichts, sondern lächelte nur freundlich.
Zuletzt sah sie ihren Fürst Galen. Er stand an einem dunklen Ort und hielt ihr Medaillon an seine Kehle.
Als sie erwachte, stellte sie fest, dass sie weinte, und ihre Gedanken kehrten ständig zurück zu jenen unerträglichen Augenblicken im Turm: unsäglich grausame, unbarmherzige Augenblicke, die sich in ihrer Erinnerung endlos wiederholten. Der stumme Rukh brachte ihr Essen, doch sie rührte es nicht an, sondern saß auf dem Bett und starrte, ohne zu sehen, in das Feuer im Kamin: Sie trauerte. Den ganzen Dunkeltag saß sie so, und kaltes Entsetzen hielt ihr Herz umklammert. Was das Gemetzel beim Überfall auf den Wagenzug nicht vermocht hatte, was achtzehn Tage in der Hand der Ghola und fünf »Tage« in einer schmutzigen Zelle ohne Licht nicht vermocht hatten, das hatte nun der Martertod Vanidors, den sie hilflos mit ansehen musste, bewirkt: Er hatte ihren Geist in ein dunkles Reich getrieben, in dem es keine Hoffnung gab.
In der folgenden Nacht träumte Laurelin erneut von der Dame mit dem goldenen Haar. Diesmal pflanzte die Elfe einen Samen in schwarze Erde. Ein grüner Spross erschien und erblühte rasch zu einer wunderschönen Blume. Und ebenso schnell welkte die Blume und starb. Ein Wind erhob sich und trug die vertrockneten Blüten und Blätter davon. Aber auch seidene Federflocken trieben im Luftzug, und die Elfe fing eine der Flocken und streckte sie Laurelin entgegen, und siehe!, es war ein Same.
Laurelin erwachte, setzte sich im flackernden Feuerschein auf und dachte über die Botschaft der blonden Dame nach, und schließlich glaubte die Prinzessin den Sinn erkannt zu haben: Dem Leben entspringt der Tod, dem Tod entspringt das Leben, es ist ein nie endender Kreislauf.
Und mit Hilfe einer goldhaarigen Elfe, der sie nie begegnet war, begann in diesem Augenblick Laurelins Seele zu heilen.
FÜNFTES KAPITEL
Drimmenheim Sie stiegen die lange Treppe hinauf, Brega und Gildor mit der Laterne voran, Tuck und Galen dahinter. Und von unten hallte es donnernd, da der wütende Krake gegen die Dämmertür hämmerte. Bum! Bum!
Am Ende der Treppe hielten sie an, um zu Atem zu kommen.
»Zweihundert Tritte«, wandte sich Brega an Gildor. »Es ist doch sehr merkwürdig, dass ein Handelsweg mit einem Hindernis wie einem Anstieg von zweihundert Stufen beginnen soll.«
»Nichtsdestoweniger, Drimm Brega, ist das der Weg, den ich damals gegangen bin«, erwiderte Gildor. »Vielleicht werden schwere Güter auf einem anderen Weg befördert, vielleicht durch eine ebenerdige Passage, die in dem Raum da unten beginnt; aber als wir vor vielen Jahren zu Fuß unter dem Grimmwall Drimmenheim durchquerten, führte man uns auf diesem Weg.« Brega brummte nur. Bum! Bum!
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