Mithgar 12 - Der schwaerzeste Tag
nicht von der schwindelerregenden Höhe in den darunter liegenden Innenhof zu schauen.
Eine gewaltige Finsternis hüllte das Land ein, doch Tucks Juwelenaugen sahen mithilfe eines anderen Lichts als die der übrigen Völker - dieses Licht nahm nur das Kleine Volk wahr. Und durch diese Schwärze kroch er nach oben, Stück für Stück auf einen breiten Fensterschlitz zu, aus dem sich ein tiefschwarzes Strahlen ergoss.
Schließlich erreichte er die Öffnung, durch die kehlige, schamlose Äußerungen zischend an sein Ohr drangen, und Tuck schauderte angewidert, als er solches Fluchen vernahm. Doch er beabsichtigte, durch diesen Schlitz zu klettern; er zog Bogen und Köcher, die unter ihm baumelten, zu sich herauf und schob sie auf den breiten Fenstersims vor ihm, und dann hievte er sich selbst hinauf, der Schwärze entgegen, die an seinen Augen zerrte.
Er blinzelte zum Schutz vor der tiefschwarzen Strahlung, als er durch die Maueröffnung kroch, Pfeile und Bogen vor sich herschiebend. Und er kam auf einem erhöhten, steinernen Steg heraus, der rund um den Raum unter ihm lief. Doch Tuck nahm wenig von dem Turmzimmer wahr, denn seine Augen waren regelrecht gefangen - festgehalten von einem großen, schwarzen Klecks, der auf einem Postament in der Mitte des Raumes ruhte. Und auch wenn Tuck es nicht wusste, so handelte es sich dabei um genau jenes Bruchstück des Drachensterns, das seinerzeit als gewaltiger, brennender Riss am Himmel über die Sieben Täler gefah ren war, und weiter über den Nordwald, über Rian, selbst über Gron hinaus. Er war in jenen öden Weiten auf Mithgar geprallt, in die man Modru verbannt hatte, genau wie von Gyphon vor viertausend Jahren geplant. Dies war der Myrkenstein, der Verschlinger des Lichts, die Quelle der tiefschwarzen Strahlung, die sich durch den Dusterschlund ausbreitete. Und er hielt Tucks Augen gefangen und schien das Sehvermögen aus ihnen zu saugen und es allmählich durch Dunkelheit zu ersetzen. Der Wurrling konnte seinen ermattenden Blick nicht von dem grässlichen, an seinen Augen zerrenden Loch abwenden, denn dessen schändliche Kraft hielt ihn fest.
Noch andere Kräfte aber, andere Energien, waren in diesem Raum am Werk, während sich die kehligen, schamlosen Runenworte aus dem Munde des Bösen ergossen. Und die Luft selbst begann sich zu verdichten, kleine Wellen zu schlagen, als wäre sie zu einer dunklen Flüssigkeit geworden, in welche die Worte fielen wie Steine in schwarzes Wasser. Und aus diesem Wogen und Wallen begann langsam eine Gestalt aufzutauchen, als hätte sich in der Ferne ein düsteres Portal geöffnet, aus dem sich eine verschwommene Figur auf den Weg machte, die mit jedem der scheußlichen Worte näher kam, immer näher kam sie dem Raum, und mit jeder Silbe, jedem Schritt nahm sie deutlicher Gestalt an, und sie schimmerte in einem dunklen Lichthof - genau wie der Myrkenstein. Und nun war die Figur schon viel klarer zu sehen, wie durch fließendes Glas: ein Mensch, würden manche sagen; ein Elf, würden andere behaupten; doch sie war keines von beidem. Es war vielmehr Er, der einst Adons Vertrauen besaß, der neben dem Thron des Einen stand, der einst eine Macht ausgeübt hatte, die nur der Eine übertraf, der gesündigt hatte, Vergebung erlangte und wieder gestürzt war… jenseits der Sphären… Es war Gyphon. Und je deutlicher Er aus dem Großen Abgrund heraufströmte, desto mehr beruhigte sich die wal lende Luft, denn Er kam nach Mithgar. Und schließlich nahm Sein Bild klare Züge an, und Er war deutlich zu sehen. Und Er war von erlesener Schönheit, denn Er war der Große Böse.
Es war Gyphons dunkel leuchtende Gestalt, die Tucks Blick vom Myrkenstein weglenkte; und dem Bokker stockte der Atem, er war überwältigt von der Schönheit, die er hier sah; kaum ertrugen seine Augen solchen Glanz. Der Wurrling wandte den Blick ab, und das Herz blieb ihm fast stehen vor Entsetzen, denn dort, hinter dem Myrkenstein, lag Laurelin, auf einen Altar gefesselt. Und über ihr stand drohend Modru, ein Singsang widerlicher Worte ergoss sich aus der scheußlichen Eisenmaske, und in der hoch erhobenen linken Hand hielt er ein myrkensteinschwarzes Messer. Am Ende einer Abflussrinne im Altar standen ein steinernes Becken und ein Kelch aus Eisen. Er wird sie töten!, dröhnte es durch Tucks Kopf.
Mit zitternden Händen band der Bokker seinen Bogen von dem Elfenseil los und suchte nach einem Pfeil. Und da, vor ihm, lag der rote Pfeil aus Othrans Grabmahl im Köcher,
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