Mithgar 16 - Drachenmacht
Stoke im Turmzimmer der uralten Moschee seine rastlose Wanderung nur lange genug, um kurz hinüber zu den Taläk-Bergen zu blicken. Aber er sah nichts Bedeutsames in der mondlosen Finsternis. Sterne zogen ihre Bahn durch das schwarze Firmament, doch der Baron nutzte seinen erhöhten Standort nicht, um sie zu bewundern. Stattdessen marschierte er weiter, wie ein gefangenes Tier, als wartete er ungeduldig auf die Rückkehr seiner Chün, die neue Opfer mitbrachten, Opfer, die seine Begierden stillen sollten. Aber die Befriedigung seiner Gelüste war keineswegs der Grund für seine Unruhe. Nein, weit gefehlt! Er wanderte aus Wut und Furcht rastlos umher, denn erst wenige Augenblicke zuvor hatte er entdeckt, dass sie kamen …
In seinem Psukhomanteion zündete Stoke seine letzte schwarze Kerze an, stellte sie so in das fünfte Feld des Kreidekreises, dass sich ihr flackerndes Licht zu dem der vier anderen Kerzen gesellte, die den rötlichen Schimmer der glühenden Kohlen in dem geschmiedeten Feuerkorb in einer Ecke der Kammer erhellten. In dem mittleren Kreis lag der Leichnam, gehäutet, mit aufgeschlitztem Bauch, aus dem die Eingeweide quollen. Sein Schädel wurde vom Licht der ersten Kerze erhellt, die Arme waren so ausgebreitet, dass die Hände auf die beiden Kerzen in Feld zwei und drei deuteten. Seine Beine waren ebenfalls gespreizt und die Füße wiesen auf die Kerzen in den Feldern vier und fünf. Der Leichnam war einst ein Mensch gewesen, jetzt war es nur eine bloße Sache.
Stoke bezog zwischen den gespreizten Beinen Stellung, jedoch außerhalb des Kreises. Er sammelte seine Energie und begann die Anrufung. »Akouse me!…«
Er äußerte Befehl nach Befehl, und jeder saugte mehr Energie aus ihm, mehr Macht, raubte ihm seine Stärke, erschöpfte seinen Willen. Doch schließlich …
»… Egö gär Stökos de keleuo se!« Das war der letzte Befehl, und Stoke musste sich anstrengen, um diese Worte überhaupt noch aussprechen zu können.
Und wie bei anderen Kadavern an anderen Orten drang aus dem Mund auch dieser Leiche eine Myriade wispernder Stimmen, die alle gleichzeitig sprachen, verebbten und wieder anschwollen, sich nach innen drängten, dann nach außen. Und beantworteten alle die Fragen des Psukhömantis, allerdings alle anders, denn alle Zeiten und Orte waren den Toten gleich.
Schloss … Gletscher … Kleine … Erkerturm … Wüste … Elf… wyrm … Tod … Bär … Speer … Kind … Uäjii… Avagon … Arden … Großwald … Rwn … Reichsmannen … Atala … Ozeane … Elfe … Schwert… Vorhänge … Kristall… Falidii … zischten zehntausend wispernde Stimmen. Ihre Antworten vermischten sich, ihr Murmeln verlief ineinander.
Stoke lauschte aufmerksam der Einen Stimme; da er eine frische Leiche gewählt hatte, sein letztes Opfer, war he pheme, die prophetische Stimme, die des Kadavers im Kreis stärker als die anderen. Als diese Stimme schließlich verstummte, stand Stoke erschüttert da.
Er hatte seine Verfolger nicht abgeschüttelt; sie waren ihm immer noch auf den Fersen! Und gerade in diesem Augenblick durchquerten sie die Karoo und waren unterwegs nach Nizari.
Deshalb marschierte Stoke hoch oben in dem Minarettzimmer furchtsam auf und ab, ergrimmt darüber, dass sie jetzt die Jäger waren und er die Beute spielte. Er blieb erneut stehen, schaute nach Norden und Osten, als wollte er seinen Blick zwingen, über die Berge und die Wüste zu fliegen und seine erbarmungslosen Feinde zu erspähen.
Da wirbelte er herum, fluchte, trampelte die Wendeltreppe hinab bis ins Untergeschoss, hastete durch Korridore aus rotem Marmor, bis er die Werkbank in seinem Laboratorium schließlich erreichte. Er versuchte, seinen Verstand zu beruhigen und einen passenden Plan für jene zu ersinnen, die ihn verfolgten. Dann nahm er die Arbeit wieder dort auf, wo er sie unterbrochen hatte, konzentrierte seinen Geist darauf, sein neuestes … Instrument zu vervollkommnen.
Es war aus Gold, maß sieben Zentimeter im Durchmesser und sechzig Zentimeter in der Länge, und verjüngte sich an einem Ende zu einer grauenhaften Spitze und zu einer Ankerplatte am anderen. Er nahm sorgfältig Maß, kritzelte kurze Längsstriche auf das Gold, wo die dreieckigen, rasiermesserscharfen Klingen eingebettet werden sollten. Klingen waren das, die über die ganze Länge des Instrumentes und rund um den Schaft angeordnet werden würden. Ab und zu markierte er auch eine Stelle, an der er Edelsteine einarbeiten wollte, vor
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