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Mitte der Welt

Mitte der Welt

Titel: Mitte der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Priess
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die türkisch-osmanische Staatsbürgerschaft bemüht, sondern die italienische behalten, die sie seit ihrer Zeit in Livorno innehatten. (Der Autor meint, trotz des langen Aufenthaltes im Orient seien sie doch immer Okzidentalen geblieben.)
    Abraham Salomon Camondo, polyglott wie er war, vermittelte mit viel Geschick zwischen ausländischen und osmanischen Interessen, setzte sich ein für Bedrängte im Osmanischen Reich, von Serbien bis in den Libanon, unterstützte großzügig die jüdischen Einrichtungen, stiftete Schulen und Hospitäler in diversen Stadtteilen, finanzierte Soforthilfen nach Feuersbrünsten und Choleraepidemien, kämpfte gegen tumben fatalistischen Konservativismus, beförderte zeitgemäße Bildung, setzte sich für Französischunterricht ein.
    Seine Großzügigkeit und sein Einfluss, vereint mit Reichtum und Macht, schenkten den Camondos so hohes Ansehen, dass sie schließlich les Rothschilds de l’Orient genannt wurden. (Dass von dieser Familie nur hundert Jahre später keine lebende Seele übrig blieb – wer, fragt der Autor, hätte das damals für möglich gehalten!)
    Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich der Niedergang des Osmanischen Reichs mehr und mehr abzeichnete, wird Abraham Salomon Camondo begonnen haben, die Situation seiner Familie, deren Oberhaupt er unzweifelhaft war, neu zu überdenken. Und sein Entschluss, den Hauptsitz des Unternehmens nach Paris zu verlegen und die Geschäfte an seine beiden Enkel, Nissim und Abraham, zu übergeben, muss gereift sein, nachdem er in einem Jahr (1866) den Tod seiner Frau, seines einzigen Sohnes und auch seiner Enkelin Rebecca zu beklagen hatte. Als er Istanbul schließlich den Rücken kehrte zusammen mit den Seinen, war er neunundachtzig Jahre alt; ein Jahr später bereits starb er und wurde, seinem Wunsch gemäß, in Hasköy in Istanbul begraben.
    Die Camondos in Paris pflegten weiterhin ein sehr großzügiges Mäzenatentum, was allein dadurch bezeugt ist, dass sie einen Großteil ihrer herrlichen Bildersammlung, unter anderem Manet, Renoir, Corot, Sisley, dem Louvre vermachten. Durch und durch assimiliert, gehörten sie zur besten Schicht der französischen Gesellschaft – und doch: Es hat die letzten der Camondo-Nachfahren nicht vor Auschwitz bewahrt.
    Die Frage, ob sie überlebt hätten, wenn sie in Istanbul geblieben wären –
    Auch in Istanbul war das Leben für Juden unsicher geworden, insbesondere während der jungtürkischen Zeit (1908–1918), so dass viele von dort nach Frankreich strömten; und wieder sorgten die Camondos sehr großzügig für deren Unterstützung.
    In Istanbul lebt der Name der Familie in den Kamondo Merdivenleri weiter , jener Treppe, die in drei spielerisch eleganten Schwüngen den steilen Hang von der Bankenstraße hinauf nach Galata überwindet – wenn auch leider der Auftraggeber auf keinem Schild dort vermerkt ist. Und auf dem jüdischen Friedhof in Hasköy am Goldenen Horn soll das Mausoleum, zwar verfallen, noch existieren. Zu erforschen wäre, ob es einen Camondo-Palazzo irgendwo noch gibt. Ferner: jene Straße im alten Galata, die einmal Rue Camondo hieß – wie heißt sie heute?
    Und ob es hier noch Nachfahren der Camondos gibt? Wie wären sie aufzuspüren?
    Vielleicht sollte ich heute Abend die Einladung bei Emels Bruder Haldun und dessen Frau Elif nutzen und nach den Namen seiner Freunde fragen.
    Viele seiner Freunde seien Juden, erzählte er damals, als wir übers einst kosmopolitische Istanbul sprachen und was davon noch geblieben ist. Nein, er trauere den alten Zeiten nicht nach, sagte er. Diesen rückwärtsgewandten Hüzün -Kult betreibe er nicht – obwohl auch er aus einer alten Familie stammt, die sich auf einen Pascha am Hofe zurückführt –; ihn interessiere, was heute ist: Wo stehen wir heute, was ist heute möglich.
    Mir imponierte, wie er bei Tisch mit der leidigen Frage eines deutschen Gastes nach der EU-Mitgliedschaft umging. Seit die Türken das Mittelmeer erreicht haben, vor bald tausend Jahren immerhin – auch wenn es im westlichen Europa viele nicht wahrhaben wollen, die Türken gehören schon aufgrund der langen gemeinsamen Geschichte dazu, sagte er. Ob sie uns nun in ihren Club aufnehmen oder nicht, spielt keine so große Rolle für uns. Wir haben auch andere Möglichkeiten; allein das riesige Mittelasien, die Märkte dort stehen uns offen! Dort sind wir gefragt mit all unserem Wissen und Können. Und wer weiß, eines Tages wird es sich vielleicht sogar umkehren: Nicht mehr wir

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