Mitte der Welt
erzählte, immer noch eine Person flocht sie ein mit wieder neuen Verstrickungen, und je länger wir fuhren an immer noch einer Bucht vorbei mit wieder anderen Ausblicken auf den Bosporus und die Hügel ringsum, umso mehr begannen Personen und Episoden, Zeiten und Orte sich zu vermischen, so dass ich, aufgeweicht, wie ich nun doch bin und krebsrot von der warmen, feuchten Hamamluft, nicht mehr alles zusammenbringen und auseinanderhalten kann; aber eines Tages, wer weiß, vielleicht erzählt mir Verkin ja tatsächlich ihre Geschichte.
Verkin sitzt mit geschlossenen Augen zwischen Sevinçs Knien und lässt sich von ihr den Kopf massieren. Ein schönes, ein interessantes Gesicht! Und doch, etwas Gehetztes, Zerrissenes ist darin. Ja, ihre Geschichte aus ihrem Mund zu hören gefiele mir! Oder war es wieder nur einfach so eine Idee, leicht dahergesagt? Ich frage Verkin, was sie studiert habe, ob Sprachen oder was sonst.
Verkin öffnet die Augen, greift nach einer Flasche, reicht sie Sevinç, sie solle ihr das Haar mit dieser Lotion einreiben, dann zu mir gewandt: Alles habe ich studiert, und nichts zu Ende. Und spöttisch lachend: Kein Fach hat mir gepasst, wie es gelehrt wird; meine Interessen sind viel zu breit gefächert.
Welches ihre Interessen denn seien, mit was sie sich beschäftige.
Ich bin Armenierin, sagt sie, nun plötzlich auf Deutsch, und ich bin Osmanin, und das Leben, das ich führe –
Sezer unterbricht: Seit wann sprichst du wieder Deutsch?
Seit eben! Eben gerade habe ich mich anders entschieden!
All die Jahre hast du dich geweigert, und nun plötzlich –
Warum sie kein Deutsch mehr gesprochen habe, frage ich.
Aus Solidarität mit den diskriminierten Türken in Deutschland. Sollen sie doch die Türken Türken sein lassen! Aber jetzt eben dachte ich, nun reicht’s!
Verkins Fähigkeit, Sprachen fast mitten im Satz zu wechseln: Vorher am Telefon sprach sie Französisch, den Chauffeur wies sie auf Türkisch an, was er in der Stadt für sie zu erledigen habe, und was sie mit den jungen Mädchen im Haus sprach – anfangs hielt ich sie für Töchter, so ungezwungen wie sie sich bewegen, jugendlich gekleidet in Jeans und T-Shirt –, das sei, sagte sie, Armenisch.
So wie du von einer in die andere Sprache schlüpfst, scheinst du ein Sprachgenie zu sein, sage ich und sehe: Honig ums Maul geschmiert oder eben Butter aufs Brot, ist auch ihr nicht unlieb; ich frage, welche Sprachen sie sonst noch spreche.
Griechisch noch und ein bisschen Italienisch, und die nächste Sprache, die sie lerne, sei Jiddisch, die Sprache ihres jetzigen Geliebten. Der sei nämlich Jude. Ein Jude in New York! Zum ersten Mal in meinem Leben liebe ich einen Juden! Sie sagt es mit einem triumphierenden Lachen; und wirft hinterher, als ob irgendein Wort gefallen wäre in irgendeine Richtung: Sagt bloß nichts gegen die Juden! Juden sind die interessantesten Menschen überhaupt, gescheit, geistreich, witzig und: gut im Bett!
Sevinç schüttet schüsselweise Wasser über die Marmorliege, um die letzten Reste Seifenschaum wegzuspülen, und gibt Sezer ein Zeichen, dass sie nun dran sei.
Verkin, sitzend, noch immer mit Lotion im Haar, die weiter einwirken muss, streckt einen Fuß aus und lässt ihn kreisen, dann den anderen; sie streicht mit der Hand über Fersen, Knöchel und Rist, schaut kontrollierend ihre Fußnägel an und seufzt: Ah, I am so much in love with him! Schon vier Monate, dass sie ihn nicht gesehen habe, vier Monate, eine entsetzlich lange Zeit! Aber nächste Woche endlich fliege sie wieder hin, sagt sie und steht auf und fragt, wer von uns eine Limonade trinken möge, und ruft nach den Mädchen im Haus; und als eines hereinschaut, teilt sie mit, was gewünscht wird; und als das Gewünschte gebracht wird, nimmt sie es wortlos entgegen, reicht es weiter und sagt: Um noch einmal auf deine Frage zurückzukommen – zurzeit beschäftige ich mich mit Zoroastrismus.
Ach ja?
Mit einem Glas Limonade in der Hand, stehend noch immer, sagt sie: Die Religion der Armenier, bevor sie Christen wurden, war zoroastrisch. Die Armenier waren ja so ziemlich die Ersten, die das Christentum annahmen, und sie haben es, diese Idioten, auch gleich zur Staatsreligion erklärt – so eine Scheiße, gebracht hat es ihnen nichts!
Vielleicht werde ich, falls Verkin mir eines Tages ihre Geschichte tatsächlich erzählen sollte, von ihr eine Version erfahren, was es mit der sogenannten »Armenischen Frage« auf sich hat, die anders ist als die
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