Mitte der Welt
Nebentisch die Rechnung bezahlen, scheinen sie es plötzlich eilig zu haben, während die Frauen noch in ihren Taschen kramen, sich ihre jungen Lippen mit kräftigem Rot nachmalen und sich über ihre Spiegelchen hinweg Zwinkerblicke zublinzeln. Auch die Männer wechseln, während sie ihre Portemonnaies wieder wegstecken, einen aufmunternden Blick. Kellner helfen beflissen die Stühle nach hinten zu rücken, um den Herrschaften das Aufstehen zu erleichtern, und nicken mehrdeutig lächelnd hinter ihnen her, als sie, ihre Jacken zurechtzupfend, zwischen den Tischen hindurch, dann treppabwärts gehen. Einmal noch ist von unten herauf ein Frauenlachen zu hören. Was jetzt sein wird, will ich mir nicht vorstellen.
Wohl möglich, dass auch die Gattinnen der Herren nichts davon wissen wollen. Nein, in deren Haut möchte ich nicht stecken, in niemandes!
Oder vielleicht doch in der der Russinnen – um ihrer Perspektive willen. Um leibhaftig zu erfahren, wie für sie , mit ihrer russischen Geschichte im Rücken, Istanbul ist. Wie sahen sie diese Stadt, als sie herkamen? Was sahen sie? Welche Vorstellungen brachten sie mit? Welches waren, außer dem schnellen Geld, ihre Hoffnungen und Erwartungen? Und wie sehen sie Istanbul heute? Und auch: Was würden sie von Istanbul erzählen?
Trinken wir noch einen Kaffee?, frage ich; und bitte den Kellner, als er den Kaffee bringt, um die Rechnung, ohne dass es am Tisch bemerkt wird. Worauf er mir mit einer Kopfbewegung zu verstehen gibt: bereits erledigt!
Wieder ist mir nicht gelungen, mich endlich einmal zu revanchieren!
Es wird gelacht.
Ich danke für die Einladung und bitte, dass sie mir nächstes Mal eine Chance geben, damit ich mich endlich nicht mehr nur als Gast in Istanbul fühlen muss.
Wenn es dir gelingt, dann bist du wirklich Istanbulerin geworden!
KAMONDO’LAR
Lass uns ein Buch machen über die Camondos!, sagte am Telefon meine Freundin aus München. Das würde uns doch beide interessieren, die Geschichte einer sefardischen Familie in Istanbul! Gerade eben sei Le dernier des Camondo bei Gallimard erschienen, sie werde mir das Buch schicken. Darin sei vor allem deren Zeit in Paris geschildert – wie aber war ihre Zeit in Istanbul? Demnächst komme sie mich besuchen, im Frühjahr, dann könnten wir ja genauer überlegen, wie wir es anstellen. Sie steuere den jüdischen Teil bei und ich den stambulischen.
Noch ist meine Freundin nicht gekommen; aber das Frühjahr ist bereits da. Und auch das Buch, von dem sie sprach; so dass ich inzwischen weiß:
Die Camondos gehören zu jenen, die 1492 aus Spanien rausgeschmissen wurden. Jahrhundertelang hatte das Zusammenleben von Muslimen, Juden und Christen unter arabischer Herrschaft gewährt, nach vollendeter katholischer Reconquista war es abrupt zu Ende. Die Vertriebenen zerstreuten sich in alle Himmelsrichtungen, viele ließen sich rund ums Mittelmeer nieder; die Camondos, nach Zwischenstationen in Triest und Livorno, Venedig und Wien, waren, wie viele andere auch, der Einladung des Sultans ins Zentrum der aufstrebenden osmanischen Weltmacht gefolgt.
Sultan Beyazıt II. soll damals gesagt haben: König Ferdinand von Spanien, von dem es doch heißt, er sei weise und klug, hat seinem Land einen großen Schaden zugefügt, als er die Juden gehen hieß – meinem Land damit aber unschätzbaren Reichtum beschert! (Leider, schreibt der Autor, finde sich dieses Sultanswort nur bei den Juden überliefert, nicht jedoch bei den Osmanen.)
Die Camondos lebten in Istanbul, vermutlich in einem der jüdischen Viertel, lange Zeit ohne dass sie sich besonders hervortaten. Sie trieben Handel, neben vielen anderen Händlern, und stiegen als Sarraf , Bankiers im weiteren Sinne, auch ins Finanzgeschäft ein.
Der rasante Aufstieg der Familie begann erst 1832, als Abraham Salomon Camondo, zweiundfünfzig Jahre alt, die Bank Isaac Camondo & Cie alleine übernahm, nachdem sein Bruder an der Pest gestorben war und die Schwester sich nach Jerusalem zurückgezogen hatte. Er baute die Bank zu einem Finanz- und Immobilien-Imperium aus, das bald alle anderen in den Schatten stellte. Zu Ministern und Veziren pflegte er beste Kontakte, wurde deren Bankier und erhielt Zutritt zum Hof, er beschaffte, neben anderen, die Finanzierung des Krim-Krieges und bekam von Sultan Abdül Aziz schließlich ein Ferman, eine Sondererlaubnis, die ihm den Besitz von Grund und Boden zugestand, obwohl er »Ausländer« war. Die Camondos hatten sich, warum auch immer, nicht um
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