Mitte der Welt
offizielle hierzulande und anders auch als die in Europa übliche – ich sage, leider sei mir bis heute nicht gelungen, nach Türkisch-Armenien zu fahren. Ani mit seinen wunderbaren Kirchen müsse traumhaft sein, nach den Fotos zu urteilen, mitten in großer, weiter Landschaft.
Ani ist einmalig!, sagt Verkin stolz.
Ihr Stolz gefällt mir.
Ani, die Hauptstadt des alten Armenischen Reiches um die Jahrtausendwende, war ein wohlhabendes, mächtiges Handels- und Kulturzentrum, direkt an der Seidenstraße gelegen. Und apropos zoroastrische Kulte: In Ani gibt es noch Reste eines Tempels aus vorchristlicher Zeit, in dem sie das Feuer angebetet haben. Lange vor der christlichen Zeit schon war Ani ein Weltzentrum, in dem sich sämtliche Kulturen jener Zeit trafen und mischten – heute interessiert sich niemand für Ani; mehr und mehr verfällt es.
Ob der Staat nichts für die Erhaltung tue.
Wenig, sehr wenig. Ich aber, ich engagiere mich dafür! Nein, nicht allein. Aber immerhin haben wir nun erreicht, dass Ani als Weltkulturerbe bei der Unesco anerkannt wurde. Und übrigens, Monsieur Chirac persönlich habe die Schirmherrschaft übernommen, fügt sie noch hinzu, in stolzem und zugleich spöttischem Ton, nachher werde sie mir die Unterlagen zeigen.
Ich frage, wie ihre Arbeit konkret aussehe.
Zurzeit sei sie dabei, eine Stiftung ins Leben zu rufen, damit die Gelder fließen könnten. Darum müsse sie viel in der Welt herumfliegen. Um die Sache in Gang zu bringen und die richtigen Leute miteinander in Kontakt, damit nicht dilettantisch vorgegangen werde, nicht nach persönlichem Gutdünken Einzelner, die keine Ahnung hätten. Die Schwierigkeit dabei ist, sagte sie, dass von Armenien kaum etwas gewusst wird. Literatur zu armenischer Geschichte und Kultur existiert nur sehr wenig, eben weil niemand, weder die Türkei noch Europa, sich dafür wirklich interessiert – höchstens, wie sie es benützen können, das wissen sie, benützen für ihre je eigenen Interessen.
Plötzlich tut mir Verkin leid; ich frage, ob sie oft nach Ani fahre.
Zurzeit liegt Ani unter meterhohem Schnee, aber im Sommer, wenn sie dort bei der Konservierungs- und Restaurierungsarbeit sind, dann fahre ich oft hin.
Nächstes Mal, wenn sie hinfahre, ob ich mich eventuell anschließen dürfe.
Ja sicher kannst du mitfahren.
Wunderbar, sage ich – und hoffe, dass es wahr wird.
Draußen wird es langsam dunkel, am gegenüberliegenden Bosporus-Ufer gehen mehr und mehr Lichter an; im Kamin brennt Feuer, sein Widerschein tanzt auf den Wänden und in den großen Spiegeln des Salons und lässt die Farben der Kelim-Decken und -Kissen, die auf Sesseln und Diwanen liegen, erglühen. Wir, uns erholend nach dem Hamam, essen Yoghurtsuppe und Börek, plaudern, lachen und lästern über Gott und die Menschen. Über die Männer besonders, im Allgemeinen und im Speziellen, sie abhandelnd als zweierlei Spezies: époux und amants . Beide werden gebraucht, wird mir gesagt, und beide behandelt, wie es ihnen gebührt, so ist das hier, und alle wissen, woran sie sind und richten sich ein danach, jedem sein Part, den Frauen ihren; damit können alle sehr gut leben, höre ich und finde diese beiden selbstbewussten Frauen überzeugend und dass zweifelsohne stimmt, was sie sagen.
In Amerika, sagt Verkin, glauben die Leute, ich sei wie sie, westlich modern, mit wissenschaftlichem Weltbild und einem Lebensstil, der zeige, dass ich das Recht auf persönliches Glück ganz und gar in Anspruch nähme – aber sie täuschen sich, ich bin nicht wie sie, ihr Glück ist nicht mein Glück, denn in Wirklichkeit ist das Leben, das ich führe, ein osmanisches!
Auch Sezer sagt, sie sei Osmanin; ihr Leben sei zwar, sagt sie, ein völlig anderes als das von Verkin, aber definitiv nicht europäisch. Und Sevinç, die etwas abseits sitzt und in Zeitungen liest, lächelt vor sich hin, ob über Gelesenes oder das Gesprochene, erkenne ich nicht. Hin und wieder kommt sie ans Feuer, um ein Holzscheit nachzulegen, nimmt sich von Börek und Kuchen und zieht sich wieder zurück; und nur wenn sie direkt angeredet wird, sagt sie etwas, diskret, nicht servil.
Während Sezer und Verkin sich weiter über gemeinsame Bekannte und neueste Stadtereignisse unterhalten, schaue ich hinaus in die Nacht, die sich herabgesenkt hat über den Bosporus mit seinen vom Schwarzen Meer kommenden und zum Schwarzen Meer gehenden Schiffen, die nur mehr an ihren Lampen zu erkennen sind, rote, grüne, weiße, durchs
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