Mitte der Welt
lichtergepunktete Dunkel gleitend; und plötzlich ist mir, als ob ich nicht ich sei, oder verrutscht in osmanische Zeit – obwohl ich nicht weiß, was genau ich mir darunter vorstellen soll.
Und Ayşe fällt mir ein, die erzählt hat, in ihrem Elternhaus habe, als sie Kind war, eine Tante Klara mitgelebt, und dass diese Klara eine Armenierin war, die als verwaistes junges Mädchen, fast noch Kind, in die Familie aufgenommen worden sei. In den alten Istanbuler Familien, sagte sie, war es üblich, elternlosen Kindern eine Zukunft zu geben; alles, was sie zum Leben brauchten, erhielten sie wie die eigenen, Liebe und Ausbildung, und die Mädchen, falls sie heiraten wollten, auch eine dem Stand der Familie entsprechende Aussteuer. Klara jedoch, sagte Ayşe, wollte nicht heiraten und blieb bis an ihr Lebensende in der Familie, die ihre geworden war. So war das damals, sagte Ayşe, eine gute alte Sitte aus osmanischer Zeit.
Dieses Leben hier, wie auch immer es genannt wird, ich finde es wunderbar; und meiner Münchner Freundin würde es bestimmt auch gefallen. Vielleicht kommt sie, was sie doch schon lange vorhat, mich endlich besuchen, wenn ich ihr zum Geburtstag vom heutigen Hamam-Nachmittag schreibe.
Schreibst du Orientalismen à la Pierre Loti? – Verkins spöttische Frage vorhin.
Mag sein, da ich nun einmal nicht ursprünglich von hier bin, dass mein Blick auf die hiesige Welt, ich kann es nicht ändern, europäisch ist.
Immerhin: Brigitte, Verkins Freundin aus Paris, die zurzeit im Haus zu Besuch ist, habe ich bis dahin unterschlagen, ausgeklammert aus meinem Bild –
Jetzt also ergänze ich: Brigitte sitzt links von mir auf dem Diwan, und sie war mit im Hamam; ihretwegen sprechen wir übrigens Englisch.
Aber wenn meine Münchner Freundin an Brigittes Stelle säße: Wäre sie angesichts von Sevinçs gekonnter épillage ebenso zögerlich wie Brigitte, ungläubig, dass tatsächlich nicht weh tut, fast nicht, wenn sie dir die geknetete und gezogene, zähe, silbern glänzende Masse aus Zucker und Zitronensaft auf die Haut drückt überall dort, wo du willst, dass sie dir die Haare mitsamt der Masse ritsch ratsch vom Leib reißt? Allein schon »reißen« – welches Wort wäre besser, weil wohl tut, dass eine dich nicht mit Gummihandschuhen anfasst oder mit Apparaten an dir herumhantiert, sondern dich nimmt, wie du bist, eine Frau, ein Frauenkörper?
Und schreib auch, schlug Verkin vor, dass sie dir sogar die Muschi enthaart, falls du es willst; das ist für europäische Gemüter prickelnd, es macht sie scharf und beschämt sie zugleich!
Ja, meine Münchner Freundin ist leicht zu haben für Neues, ihr fiele nicht schwer zu akzeptieren, dass es Kismet hier wirklich gibt, neben allem anderen, was es natürlich auch gibt – nicht wie Brigitte, die meint, Kismet sei nichts als Zufall.
Zufall – was dir zufällt!
Und vielleicht, wenn ich meine Freundin, mitsamt ihrem Namen, Rahel oder wie auch immer sie dann heißen möchte, ins Hamam mitsetzen würde in ihrer Geburtstagsgeschichte zusammen mit Sezer und Verkin und mir – vielleicht gefiele es ihr sogar, und sie käme mich endlich doch besuchen in Istanbul!
Verkin ruft eines der Mädchen, verlangt nach ihrer Handtasche und reicht mir ihre Karte: Du kannst mich immer besuchen, wenn du willst, komm einfach her!
Oder ich ruf dich vorher an, was weiß ich, ob du grad in New York bist bei deinem Juden oder sonst wo in der Welt.
Sie lacht. Und wenn du nächstes Mal kommst, erzähle ich dir von meiner Familie, eine wirklich interessante Geschichte, die, wenn sie aufgeschrieben würde, leicht ein Bestseller werden könnte; wie die von der letzten Sultanin – wie hieß sie noch, die sie aufschrieb?
Ob ich dieser armenischen Königin ein angemessen glänzendes Porträt zu verfertigen in der Lage sein werde? Falls es überhaupt je dazu kommt –
DAS UNSÄGLICHE WORT
Heute gehst du zu ihm.
Mais oui, ma chère, sagte er , vous êtes toujours la bienvenue!
Türen und Fenster stehen offen für durchziehende Luft, und ich, frisch geduscht, probiere vor dem Spiegel, welches Kleid für den Besuch bei ihm passt.
Du bewunderst ihn.
Ich bewundere seine Sprache, seit ich das erste Mal etwas von ihm las, sein präzises Setzen von Worten und das Auslassen, Bedeutung verschiebend, verändernd, verdoppelnd, sein virtuoses Spiel mit verschiedenen Ebenen – aber vielleicht sollte ich doch eher das mauvefarbene Kleid, obwohl –
Obwohl was?
Ich weiß, wichtig ist nicht, was
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