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Mitte der Welt

Mitte der Welt

Titel: Mitte der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Priess
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hier in Istanbul Gläubige zum Gebet! Und ich weiß natürlich: Alle haben hier ihre Gotteshäuser, nicht nur Muslime, alle beten sie zu ihrem, dem einen Gott, alle nach ihrer Art, russisch, armenisch, griechisch, römisch, evangelisch, anglikanisch. Viele ihrer Kirchen habe ich betreten, ihre Ikonen und Taufbecken, ihre Altäre und Kronleuchter bestaunt, oder wenn Gottesdienst war, mich in die hinterste Reihe gesetzt und ihre Gesänge gehört, jubelnde, verhaltene, inbrünstige, preisende, flehende, und gesehen, wie verschieden sie beten, mit offenen oder geschlossenen, erhobenen oder gefalteten Händen. Seit hunderten von Jahren ist es so in dieser Stadt, in der nun auch ich lebe und glaube, was mir gefällt.
    Aber wenn der Wind das Läuten der Glocken zu mir herüberträgt, ein scheues, schüchternes, fast flehendes Gebimmel, klingt etwas an in mir; etwas wie – Heimweh.
    Heim – wohin?
    Ich bin doch hier!

SCHWIERIGKEITEN BEIM GEHEN AUF NASSEN STRASSEN
    Es regnet nicht mehr, seh ich vom Bus aus und beschließe: Bei Unkapanı steige ich aus, das letzte Stück bis zur Bibliothek geh ich zu Fuß!
    Die Luft ist frisch, und ein bisschen windig ist es auch. Den Schal lege ich mir um Kopf und Schultern; und frage mich: Die frisch gepflanzten Bäumchen in den neu erstellten Uferanlagen, wie viele Jahre wird es dauern, bis sie so groß sind, dass sie rauschen oder Schatten spenden im Sommer? Und die Schiffanlegestelle Cihali Iskelesi – ob dort überhaupt noch angelegt wird? Pierre Lotis Aziyadeh wurde nächtens im Kaik, meine ich mich zu erinnern, von hier aus übers Goldene Horn gerudert.
    Im Westen der Himmel reißt auf jetzt, blauglänzende Löcher, die sich in Pfützen spiegeln. Ein Bündel Sonnenlicht bricht durch die Wolken, huscht über die Werften drüben bei Hasköy und hinauf die ganz und gar überbauten Hügel; zu Lotis Zeiten waren dort Gärten und Friedhöfe und unten am Ufer die Werften des Padişah.
    Aufkommender Wind jetzt. Und dass die Straße so nass ist! Ich überspringe Pfützen, die tümpelgroßen umgehe ich, und warte weit genug entfernt, wenn Autos heranbrausen auf der großen breiten Straße; aber sie sehen mich und rasen neben den Pfützen vorbei.
    Bei der nächsten Ampel wechsle ich die Straßenseite wegen einer Baustelle und gehe nun den alten Mauern von Häusern und Schuppen entlang, die so dicht an der Fahrbahn stehen, dass kaum Platz bleibt für zu Fuß Gehende. Aber niemand geht hier zu Fuß. Weit und breit bin ich die Einzige, die hier geht, an Autowerkstätten und Lagern vorbei und verschlossenen Toren, einmal eine Polsterei, einmal eine Tischlerei.
    Als wieder ein Pulk Autos angerast kommt, aufstiebende Nässe. Ich drücke mich an die Häuser, sehe aber, durch die Riesenpfütze vor mir rauscht, trotz Tempo, keiner hindurch.
    Dann plötzlich doch eine Fontäne – von oben bis unten bin ich nass gespritzt.
    Du Schwein!, schrei ich hinterher, und sehe: Der Fahrer des Autos, das mir diese Breitseite verpasst hat, verlangsamt die Fahrt, schaut zurück und verwirft die Hände; dann gibt er Gas und braust davon.
    Meine ohnmächtige Wut – was soll ich tun! Ich wische mir die Brühe aus dem Gesicht, schüttle Haar und Schal aus, und vom Regenmantel ab, was noch nicht in den Stoff eingezogen ist.
    Nimm’s hin, was ist schon dabei!
    Und Yüksel fällt mir ein, der erzählte, dass er in Hakkâri mit seinem weißen Kittel von weitem schon als Arzt und somit als Türke zu erkennen sei, und wenn es dort regne, dann, sagte er, könne leicht passieren, dass sie mit dem Auto Anlauf nehmen und gezielt durch die Pfütze rasen, damit die Brühe ihn voll und ganz erwische.
    Mit dem breiten roten Schal bin auch ich nicht zu übersehen hier; und schon von weitem erkennen sie: Die dort auf der Straße ist keine von uns! Keine jedenfalls aus den Stadtteilen Fener und Balat.
    Trotzdem, ich verstehe sie nicht!
    Nichts wirst du herausbekommen aus ihnen, weil du sie nicht wirklich verstehst, sagte Nihal, meine junge türkische Freundin in Deutschland. Weil du nicht weißt, was es heißt, dort geboren und aufgewachsen zu sein und leben zu müssen, insbesondere als Frau. Weil du es nicht am eigenen Leib erlebt hast, darum. Weil du Augen und Ohren und Nase dafür nicht hast! Zwar ehrt dich dein Interesse, aber: Du schaust uns zu! Du machst uns zum Objekt deiner Neugier und meinst, weil du uns keinen Stempel aufzudrücken gedenkst, es wäre legitim.
    Sie selbst habe doch kaum in der Türkei gelebt, nur als kleines

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