Mitte der Welt
es – nein, sie sagen, wie gut die Zeit mit ihm war.
Heute endlich traute ich mich, Magdalena zu fragen, woran Sabahattin denn eigentlich gestorben sei.
Krank gemacht, sagte sie, hat ihn der Undank des heißgeliebten Vaterlandes, für das er doch alles gegeben hat. Von dieser Enttäuschung, nachdem er aus dem Gefängnis wiederkam, hat er sich nie mehr erholt; daran eigentlich ist er gestorben.
Gefängnisse von innen zu kennen ist für viele dieser Pioniere nichts Ungewöhnliches. Viele waren drinnen, in den 60er und den 70er Jahren, auch schon früher, weil sie den Traum vom neuen Menschen im neuen Staat ernst nahmen, weil sie alles daransetzten, ihn zu verwirklichen: Lehrer, Dichter, Philosophen, Historiker, Soziologen, Journalisten, Agronomen, Schriftsteller, Verleger, Künstler.
Wenn sie heute von ihrer Zeit im Gefängnis sprechen, erzählen sie von den Mitgefangenen, politischen und nichtpolitischen, und wie sie sich nächtelang Gedichte vortrugen, auswendig, und ihr vielfältiges, verschiedenartig die Welt umspannendes Wissen zusammentrugen und austauschten; und von Verwandten, Befreundeten und Geliebten erzählen sie, die ihnen Essen brachten und Nachrichten, und die Verbindung hielten nach draußen.
Magdalenas Aufforderung: Aber nun erzählen Sie auch von sich! – Was konnte ich schon berichten angesichts der Geschichten dieser alten Helden! Von »meinem« Park drüben in Kalamış erzählte ich, dass ich manchmal hinüberfahre, um dort Tee zu trinken, Zeitung zu lesen oder auch nur die Aussicht auf die Inseln zu genießen, die ja so nah sind dort. Worauf sie fragte: Kennen Sie Çelik Gülersoy? Er hat viel über Istanbul geschrieben; auch er sitzt oft in jenem Park. Und wissen Sie, dass dort ganz in der Nähe, in einer der kleinen Querstraßen hinter dem Park, das Atelier von Bedri Rahmi steht, einem der Brüder Sabahattins?
Ja, ich weiß es, sagte ich; erzählte aber nicht, was ich dort sah, als mein Geliebter, der Bedri Rahmi sehr schätzt, mich einmal zu dessen Atelier geführt hatte: hinter dem verschlossenen, überwucherten Tor die blinden Scheiben des Ateliers – unübersehbar, dass seit sehr langem niemand mehr dort war, geschweige denn gearbeitet hat. Ich fragte nur: Wann eigentlich ist Bedri Rahmi gestorben?
Magdalena überlegte, sagte dann: 1975 muss es gewesen sein, zwei Jahre nach Sabahattins Tod.
Und stimmt es, dass die Eyüboğlu-Familie ursprünglich aus Trabzon stammt?
Nicht aus Trabzon selbst, sondern aus Maçka bei Trabzon.
Obwohl Magdalena es nicht liebt, wenn sie »gelöchert« wird, wie sie es nennt – sie habe doch längst alles gesagt, was es zu sagen gebe –, fragte ich weiter: Und stimmt wirklich, dass alle Geschwister in Europa studiert haben? Was haben sie denn studiert, wo in Europa?
Während Magdalena zu erzählen begann, zog ich mein Heft aus der Tasche, ob ich mir Notizen machen dürfe – sie hatte nichts dagegen.
Notiert habe ich:
Sabahattin ist der Älteste der fünf Geschwister.
Bedri Rahmi, der zweite, verheiratet mit Eren, Künstlerin aus Rumänien – verschmitzt lächelnd sagte Magdalena dazu: Auch die beiden haben sich in Paris gefunden.
Nevzat, die dritte, Gymnasiallehrerin, verheiratet mit Göloğlu, damals Abgeordneter im Parlament – die Einzige, die nicht aus Europa ihren Lebenspartner mitgebracht hat.
Dann Mualla, Kunsthistorikerin und Architektin – sie hat die Restaurierung vom alten Topkapı Palast initiiert und geleitet. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts stand er leer, seit dem Umzug des Sultans in den neuen Dolmabahçe Palast. Mualla hat von der alten Pracht gerettet, was noch zu retten war.
Mustafa, der Jüngste, hat Landwirtschaft studiert, war Lehrer in einem Dorf-Institut – jene köy enstitüleri genannten Einrichtungen zur Volksbildung, die um 1940 gegründet worden waren.
Als ich das Glück hatte, Mustafa persönlich kennenzulernen – es war beim Treffen anlässlich des 20. Todestages von Sabahattin –, fragte ich ihn nach den Dorf-Instituten, ob er mir, auch wenn er es sicher schon hundert Mal getan habe, davon erzählen möge.
Möge er gerne, sagte er und begann wie ein guter nimmermüder Lehrer, dessen größte Freude Aufklärung und Wissensvermittlung ist: Die Landbevölkerung, die seit dem Untergang des feudalen Osmanischen Reiches orientierungslos war, verarmte in den Wirren des Befreiungskrieges (1919–1923) vollends und vegetierte, erschöpft und ausgelaugt, nur noch vor sich hin. In der jungen Republik aber galt:
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