Mitte der Welt
niemanden. Falls sie aber doch einmal sich ärgert, dann eben ihr kleinmädchenhaftes Aufstampfen, begleitet vom kecken Glitzern in ihren Augen, so schlimm sei es doch gar nicht.
Dass Sabahattins Leistungen mir bekannt sind, setzt sie voraus; mit seinen Federn, sagte sie einmal, wolle sie sich nicht schmücken. Sabahattins Name fehlt in keinem Schulbuch – ich weiß es nicht von ihr, sondern von meinem Geliebten. Er sagte: Wir in der Türkei verdanken ihm unendlich viel, denn er hat uns, als unermüdlicher Übersetzer, europäische Literatur und Philosophie und Kultur vermittelt.
Beide, Sabahattin und Magdalena, gehören zu jenen Pionieren, die das neue Selbstverständnis der noch jungen türkischen Republik maßgeblich geprägt hatten. Aber Magdalena spricht über jene Zeit, als ob es das Selbstverständlichste wäre, das eigene Leben ganz in den Dienst der Gesellschaft gestellt zu haben. Auch dass sie, wie viele dieser Pioniere, keine Kinder zeugten – Warum sollten wir! Es gibt so viele Kinder in Anatolien, die Erziehung, Bildung, Liebe brauchen, sagten wir uns; kümmern wir uns also um sie!
Heute endlich fragte ich sie, woraus sich dieser Enthusiasmus denn gespeist habe.
Sie wissen doch, die Gründung der Republik war ein Neuanfang. Eine neue Gesellschaft, ein neues, ein gerechteres Leben, alles schien möglich. Unter osmanischer Herrschaft hatte gegolten, dass die vielen verschiedenen Völker zwar ihre Traditionen und Religionen hatten, die zu leben ihnen gewährt war, auch um ihrer Regierbarkeit willen, aber Kultur und Kunst fanden ausschließlich am Hof statt, im Zentrum der Macht. Musik, Dichtung, Kaligrafie, ja die Sprache selbst waren unendlich weit entfernt vom realen Leben der Menschen in dem Riesenreich, das eigentlich unbekannt war. Niemand interessierte sich dafür. Nur Reichsverwalter und Steuerbeamte reisten durch die Provinzen, Heerführer und andere im Dienst des Sultans, aber freiwillig machte sich keiner dorthin auf den Weg. Höchstens einzelne, wagemutige Forscher, vor allem aus westlichen Ländern, durchquerten das Land, und die christlichen Missionare mit ihren ganz eigenen Anliegen. Für die osmanische Elite jedoch lagen Paris oder Wien sehr viel näher als meinetwegen Kayseri oder Trabzon oder Sivas oder Samsun.
Erst nach der Gründung der Republik rückte Anatolien ins Blickfeld. Die Geschichte und die Kulturen der Völker Anatoliens wurden damals überhaupt erst entdeckt. Auch das Land, zum ersten Mal wurde seine Schönheit wahrgenommen, lieblich an den Küsten, trocken im Innern, im Osten wild und bergig. Es wurde geforscht und gesammelt und dokumentiert und geschrieben; wunderbare Bücher wurden gemacht und Museen eröffnet und Schulen und Universitäten gegründet, um all das neue Wissen weiterzugeben. Und in der Kunst zählte nun nicht mehr die höfische Elaboriertheit, sondern, ein absolutes Novum, die vitale ursprüngliche Schönheit der Volkskunst, die Kunst der Völker also, die in diesem unserem Land lebten.
In keiner Wohnung dieser Pioniere, die mir zu betreten vergönnt war, fehlen die Zeugnisse ihrer Entdeckungsreisen: Kelim und Kissen, über Sessel und Sofas gebreitet, Stickereien als Schmuck an den Wänden, Kupfer- und Zinnwaren auf Tischen und Regalen. Und wenn sie, diese inzwischen alt gewordenen Damen und Herren, heute zusammen feiern, dann singen sie die alten Lieder, rezitieren Gedichte und erzählen die Geschichten von damals. Und von ihren Reisen erzählen sie, insbesondere von den Mavi Yolculuklar , jenen Blaue Reisen genannten Segeltouren entlang der West- und Südküste lange vor jedem Tourismus, als noch viele Orte nur vom Wasser her zugänglich waren oder auf Saumpfaden über die Berge. Und immer fällt dann auch der Name Halikarnas Balıkçısı, »Fischer von Halikarnassos«, der zwar als Sohn eines Paschas in London und Oxford studiert hatte, sich aber in Bodrum, einem damals winzigen Fischerort, niederließ und fortan Natur und Menschen jenes Küstenstreifens schreibend und malend pries. Alle haben ihn gekannt, bewundert und verehrt; eine charismatische Persönlichkeit muss er gewesen sein, und einer der Ersten offenbar, der Anatolien als kulturellen Schmelztiegel verstand.
Und so wie sie alle niemals jammern oder klagen, jammert oder klagt auch Magdalena nie. Mit keinem Seufzen gibt sie preis, wie sehr sie Sabahattin vermisst, den geliebten Mann, der schon seit mehr als zwanzig Jahren tot ist. Nur die vielen Fotografien von ihm in ihrer Wohnung sagen
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