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Mitte der Welt

Mitte der Welt

Titel: Mitte der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Priess
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werde.
    Sein indigniertes Lächeln dann und sein »L’Orient« – je vous en prie, ma chère, que est-ce que c’est alors! –
    Ja, ich verstand den Fauxpas sofort.
    Und Demir, der dich später, draußen auf der Straße, fragte, warum du es ausgerechnet ihm sagtest, der sich doch selbst ganz und gar nicht als Orientale versteht –
    Nein, sehr schlimm sei es nicht gewesen, meinte Demir, nur halt ein bisschen ungeschickt.
    Du wusstest doch, dass Ferit Bey viele Jahre in Paris gelebt hat und bewandert ist in Literatur und Kunst, europäischer und asiatischer, wie selten einer.
    Aber durch seine Distanz zu diesem Land hier, das trotz allem auch »seines« ist, entsteht in seinem Schreiben eine Skepsis, zärtlich und schmerzhaft zugleich, die es mir möglich gemacht hat, hier Fuß zu fassen.
    Das abrupte Halten des Lifts, mit leichtem Nachschaukeln, und plötzlich das Herz, heftig bis in den Hals – jetzt bist du da!
    Ich trete aus dem Lift, drücke den Klingelknopf, es schellt; dann Schritte – die Tür wird geöffnet. Ich höre mich der Dame im Vorzimmer sagen: Ich werde erwartet. Lächelnd greift sie zum Telefonhörer, fragt, wen sie melden dürfe.
    Sie meldet dich an jetzt, und du –
    Ich stehe und warte, bis ich –
    Du stehst und wartest und fragst dich, wie lange du hier wohl warten wirst.
    Dieses Warten –
    Ja, du kennst es – Warten voller Angst, dass du nicht erwartet wirst.
    Plötzlich versteh ich nicht, wie es kommt, dass ich hier in diesem Vorzimmer stehe.
    Dass du den Mut hast zu erwarten, dass er dir seine Zeit zu widmen wünsche!
    Jederzeit dürfen Sie mich besuchen, kommen Sie einfach vorbei! – so hatte er gesagt.
    Du weißt doch, wie es gemeint ist.
    Um endlich jenes Wort zu tilgen, darum bin ich hier!
    Um dir sein Wohlwollen zurückzuerobern, obwohl du weißt, verspielt ist verspielt.
    Ich muss weg hier, jetzt sofort!
    Ein unmöglicher Abgang!
    Trotzdem, ich muss gehen jetzt, verschwinden.
    Mit den Augen beim Ausgang, die Hand fast schon nach der Türklinke greifend, sind Schritte zu hören hinter der anderen Tür; sie wird geöffnet, Tageslicht fällt ins Vorzimmer, ein Schatten darin, und:
    Enfin vous venez me visiter, ma chère, finalement vous avez eu le temps!

DER ALTE AM ABHANG
    Aufschauend vom Schreibtisch: Er kommt! Ja, er – er kommt!
    Ich schaue genauer, sehe:
    Weißhaariger alter Mann kommt Schritt vor Schritt über den leeren Parkplatz, langsam, vorsichtig; etwas unsicher, aber nicht ängstlich bis an die Böschung heran, bleibt stehen an der Kante, schaut um sich, hoch zu den Häusern, rechts, links, dann abwärts; er sucht, wo ein Weg den Hang hinabführt; er scheint sich, so wie er schaut, hier in Cihangir nicht auszukennen, aber er wirkt nicht verloren oder beunruhigt; und ganz ohne Eile, so wie er an der Kante steht und in den Morgen schaut, eine Hand über den Augen, sie schützend vor der gleißenden Helle heute Morgen – die Schiffe im glitzernden Gegenlicht wie Scherenschnitte, und drüben auf dem asiatischen Ufer hügelauf, hügelab die Dächer glänzend wie nasser Schiefer, und draußen im Marmara Meer die Prinzeninseln, noch vom Morgendunst verschleiert, scheinen zu schwimmen –
    Er schaut übers Goldene Horn, nach Stambul hinüber mit all seinen Palästen und Moscheen; ausführlich und genau schaut er, als ob er die Stadt kenne seit Jahren und die Pracht des heutigen Morgens zu schätzen wisse, so viele Morgen, wie er, mag sein, gesehen hat über dieser Stadt, so ruhig und gelassen wie er dasteht, Hände in die Seiten gestützt jetzt und den Kopf leicht erhoben; ohne Neues noch zu erwarten vom Leben, nur was sich ihm zeigt mit Erfahrenem vergleichend, Feinheiten unterscheidend, was war, was ist und was, möglicherweise, noch sein könnte; oder, könnte auch sein, so wie er sich in den Morgen verschaut, dass er wünscht, eine Fee käme und schenkte ihm etwas noch nie Gesehenes, etwas ihm Unausdenkliches, etwas wirklich und wahrhaft Neues noch einmal zu erleben in seinem Leben, was alles Gelebte in den Schatten stellte oder in ein neues Licht. Aber, wird auch er sich sagen, so ist es nicht, das Leben, sondern: endlich – mitsamt seinen nicht endlosen Möglichkeiten.
    Und ich – ich stehe immer noch am Fenster und schaue zu ihm; ich schaue zu, wie er dasteht an der Kante, der Alte, und schaut und schaut, und manchmal sich das weiße, vom Morgenwind verwehte Haar aus dem Gesicht streicht und wartet –
    Worauf wartest du noch! Siehst du nicht, wieder geht sein Blick

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