Mitte der Welt
Kind im arabischen Südosten, und in Istanbul sei sie in ihrem Leben nie gewesen, versuchte ich sie zu beschwichtigen. Es schlug fehl. Obwohl sie sonst nicht genug lästern kann über den Wahn vieler Eingewanderter, die ihre Herkunft hochhielten und vor sich hertrügen wie eine Monstranz. Sie steigerte sich hinein, verschwor sich geradezu mit »ihren« Leuten, als ob sie sie vor mir beschützen müsste.
Ein paar Tage später, als wir uns zufällig wiedertrafen, entschuldigte sie sich für ihren Ausbruch. Erst im Nachhinein, sagte sie, habe sie kapiert, dass sie auf sich selbst wütend war. Weil sie es nicht selbst tue, aus ihrer Sicht; denn, wenn sie es täte, mit ihrer Geschichte im Rücken, dann sähe alles ganz anders aus!
Sie sehen durchfroren aus, sagt die Frau in der Bibliothek. Ob ich einen Tee möge.
Während ich das heiße Glas in der Hand halte und daran nippe, sehe ich: Auf meinem Regenmantel die zum Teil handtellergroßen Wasserflecken verschwinden bereits. Auf Yüksels weißem Kittel wird der Schlamm ganz sicher haften bleiben, da dort, im äußersten Osten des Landes, die meisten Straßen ja noch immer ungeteert sind.
Als ich den Tee ausgetrunken habe, frage ich nach dem bestellten Buch –
PIONIERE VERGANGENER ZEITEN
Obwohl Magdalena ausschließlich von ihren Klavierstunden lebt und zusehen muss, dass sie durchkommt, wehrte sie entschieden ab: Nein, Sie haben mich zum Konzert eingeladen, ich lade Sie zum Essen ein! Als ich es noch einmal versuchte, wirkte sie gekränkt.
Andererseits hat sie sich nicht gescheut, den Kellner zu bitten, dass er einpacke, was von den gebratenen Nierchen übrig blieb; und nahm das Päckchen, als er es mitsamt der Rechnung auf den Tisch legte, wie die Gabe eines Vasallen entgegen, königlich lächelnd.
Auch nach dem Konzert meine Frage, ob ich ihr den Mantel holen dürfe, quittierte sie mit diesem KöniginnenLächeln: Jetzt noch nicht, die Musiker muss ich ja noch begrüßen!
Ob sie nach hinten in die Künstlergarderobe gehen möge.
Nein, nein, die kommen hier durch die Halle! Wissen Sie, alle haben Klavierunterricht gehabt bei mir, fast alle. Ich habe mit ihnen repetiert und geübt, mit einigen täglich, ja, auch mit Sängern. Sie sind meine »Kinder«, verstehen Sie, und ich muss unbedingt wissen, wie es ihnen geht.
Und tatsächlich, als diverse Musiker auf sie zueilten und sie ehrerbietig begrüßten, erinnerte Magdalena von jedem die familiären und die beruflichen Verhältnisse und fragte nach, was seither gewesen sei und wie es weitergehe, sehr besorgt, dass alle ihre Schützlinge im Reich der Musik sich glanzvoll entfalten könnten, zum Lobe der Musik und zur Freude derer, die sie hörten.
Draußen auf der Straße dann, als ich ihr meinen Arm anbot, windig wie es heute ist, stürmisch fast, stampfte sie mit dem Fuß – was mit den hochhackigen Schuhen, die sie immer trägt, mädchenhaft kokett wirkte. Nein, ich brauche Ihren Arm nicht! Ich bin doch nicht gebrechlich! Ihr Lächeln dazu, kapriziös: Wenn Schnee liegt, vielleicht dann!
Wirklich ernst meint sie es wohl nur, wenn es um die Musik geht.
Studiert hatte Magdalena in Paris und bereits die Karriere einer Pianistin begonnen, als sie Sabahattin Eyüboğlu begegnete, dem Mann ihres Lebens, wie sie ihn nennt.
Sabahattin hatte, wie alle seine Geschwister auch, in Europa studiert, er in Paris; und dort, in Paris, hatten sie sich gefunden und wurden ein Paar, Magdalena und er; und zusammen kamen sie 1951 in die Türkei. So viel immerhin wusste ich. Heute beim Essen, hoffte ich, würde ich sie ausführlicher nach der Eyüboğlu-Familie fragen können und endlich auch nach ihr selbst.
Dass sie Schweizerin ist, aus Bern, ist unüberhörbar, wenn sie Deutsch spricht, und auch in ihrem Türkisch, das sie perfekt beherrscht, meine ich, klingt es mit.
Mein noch immer nur rudimentäres Türkisch findet sie unverzeihlich – Sie, die Sie sich für Literatur interessieren! Schönheit und Reichtum dieser Sprache wird sich Ihnen, das wissen Sie natürlich, erst erschließen, wenn Ihnen die Sprache so selbstverständlich sitzt wie eine neue Haut. Seien Sie also fleißig, strengen Sie sich mehr an! Sie können das!
Dieser Ton, typisch Magdalena, ermunternd, ermutigend und gleichzeitig fordernd, obendrüber vergoldet mit ihrem Zauberlächeln.
Ja, auch sie erzählt immer von Leistungen anderer, künstlerischen, wissenschaftlichen, intellektuellen, sozialen, die sie lobt; niemals spricht sie abschätzig, über
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