Mitte der Welt
die Böschung hinab, er sucht nach dem Weg!
Ja, von dort, wo er steht, kann er den Weg nicht sehen, der, versteckt im Gestrüpp, nur ein Trampelpfad ist. Und plötzlich und heftig wieder das Herz bis in den Hals: Schnell, lauf hin zu ihm, zeig ihm den Weg, führ ihn, damit er nicht stürzt! –
Ich laufe zur Tür – damit es endlich, endlich wahr wird, damit die Liebe, damit er, damit ich – und zurück ans Fenster, um zu rufen, er soll warten, du wirst ihm helfen, gleich bist du bei ihm!
Aber: Von wer weiß woher aufgetaucht, reicht ihm eine junge Frau bereits ihre Hand zum sicheren Schritt über die Kante; und: Er nimmt die Hand der Frau, die, so selbstverständlich, wie sie ihm hilft, seine Tochter sein könnte; aber so jung ist sie doch gar nicht, sehe ich nun, sondern eine gestandene Frau, die auf dem Weg zur Arbeit, so wie sie aussieht in ihrem Deux-pièces und mit Aktenköfferchen in der anderen, der freien Hand, rein zufällig dem Alten am Hang begegnet ist.
Sie bleiben stehen jetzt, mitten im Hang, sie reden miteinander, Worte, die oben am Fenster nicht zu hören sind; aber ich verstehe, ihr ausgestreckter Arm zeigt ihm, wo der Pfad hinabführt zwischen Grasbüscheln, Gestrüpp und Müll, und ihren Blick, der fragt, ob er es schaffe allein. Und wie der Alte ihr zunickt, sehe ich, und wie sie zurücknickt und lächelt. Dann läuft sie fast hüpfend den Hang hinab; der Alte schaut ihr nach, bis sie nicht mehr zu sehen ist, verschwunden hinter dem nächsten Haus; nun geht auch er wieder einen Schritt hangabwärts, dann noch einen, und noch einen, einen neben den anderen, breitbeinig, entengängig; und wieder bleibt er stehen, vor Anstrengung oder aus Vorsicht vielleicht, um nicht doch noch zu stürzen oder zu rutschen auf dem steilen, vom Regen ausgewaschenen Pfad, oder einfach um dieses zauberhaften Morgens willen, oder vielleicht doch –
Nein, ich weiß: Er ist es nicht. Im Leben kommt er nicht mehr, nur im Traum – oder an einem Morgen wie heute im lidschlagkurzen Augenblick, bevor das Wissen zuschlägt: Er ist tot, schon seit drei Jahren.
Der Alte am Hang geht weiter abwärts und verschwindet hinter den Häusern; und ich – ich schließe das Fenster und kehre zurück an den Schreibtisch.
MITTE DER WELT
Endlich hab ich sie gefunden – gehauen in Stein!
Längst weiß ich, dass hier in dieser Stadt die Mitte der Welt ist – wo sonst! Aber den Stein, der sie markiert, sah ich bis heute nicht. Bis vor kurzem wusste ich nicht einmal, dass die Mitte der Welt in Stein gehauen existiert.
Nicht verwunderlich, hörte ich, so schief wie die Welt heute hängt, dass niemand in Europa von ihrer Mitte weiß. Dort können sie sich nichts anderes vorstellen, als dass die Welt so sei, wie sie sie sehen. Weil sie nichts anderes kennen; nur ihre kleine, einseitig eindeutige Welt, deren Mitte sie selbst sind. Mehr wissen sie nicht.
Unbedingt wollte ich, seit ich vom Stein der Weltmitte wusste, ihn auch sehen; aber eben, bis heute fand ich ihn nicht, nur dass die Ortsangabe reichlich ungenau sei.
Ich müsse, wurde gelacht, fast drüber gestolpert sein; und noch einmal erklärten sie mir, wo an der Straße ich den Stein finde. Wieder ging ich hin, und wieder fand ich ihn nicht; und traute mich nicht, noch einmal zu fragen. Sondern dachte: Aus sicher fixierten Punkten auf dieser Welt machst du dir nichts; mit eigenen Augen sehen musst du nicht, um zu glauben, was du weißt.
Zufällig ging ich heute zwischen Aya Sofya und Sultan Ahmet vorbei und dachte, mal sehen, ob sich mir der Stein heute zeigt. Und übersah, mich nach ihm umschauend, die herankommende Straßenbahn, so dass ich erst im allerletzten Augenblick einen mein Leben rettenden Sprung über die Absperrkette sprang und, nun ja, zufällig vor dem Stein landete – der dort zwischen Aya Sofya und Sultan Ahmet unübersehbar steht, seit endlos langer Zeit.
DER WIND HAT GEDREHT
Glockenläuten von Beyoğlu herüber – wenn der Wind das Läuten der Glocken bis zu mir herbringt, wird es bald Regen geben. Meistens ist es so.
Vom Fenster aus sehe ich: Bereits überziehen Wolkenschlieren von Westen her den Sonntagmorgenhimmel.
Ans Rufen von den Minaretten herab fünf Mal täglich habe ich mich längst gewöhnt und wache nicht mehr auf vom Ruf zum ersten Gebet eine Stunde vor Sonnenaufgang; auch tagsüber höre ich es kaum noch, dieses vieltausendstimmige Rufen übers Brausen der Stadt hinweg. Aber das Läuten der Glocken –
Ja gewiss, Glocken rufen auch
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