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Mitte der Welt

Mitte der Welt

Titel: Mitte der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Priess
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Bildung für alle, in der ganzen Türkei, nicht mehr nur für die Eliten! Echte Hilfe für die Landbevölkerung konnte nur Bildung bringen; das bedeutete: Emanzipation aus den jahrhundertealten Fesseln der gesellschaftlichen und religiösen Traditionen, Erziehung zu selbstbewussten, demokratisch-laizistischen Staatsbürgern, die an den Errungenschaften der kemalistischen Revolution teilhaben können. Mustafa lächelnd dann: Heute heißt das ja wohl Hilfe zur Selbsthilfe – das kennen Sie doch!
    Den Begriff, ja, aber wie sah es konkret aus?
    Ganz einfach: Wir haben zusammen gelebt und gearbeitet. Ja, koedukativ! Einzige Voraussetzung, um aufgenommen zu werden in diesen Instituten, sei gewesen, dass die jungen Leute Grundkenntnisse hatten, also lesen und schreiben konnten, und gesund und einigermaßen fit waren auch im Kopf. Ansonsten, sagte Mustafa, waren sie sehr frei und bestimmten mit, was gelehrt und was angebaut wurde. In den Morgenstunden haben wir Allgemeinwissen unterrichtet, Geschichte, Mathematik, Geografie, Physik, Türkisch – viele konnten ja gar nicht richtig Türkisch sprechen! – und moderne Literatur. Ferner landwirtschaftliches Wissen wie Feld-, Garten- und Tierpflege. Und als Drittes handwerkliche und hauswirtschaftliche Fähigkeiten bis hin zu zeitgemäßer Kinder- und Gesundheitspflege. Danach sind wir raus auf die Felder. Und abends gab es Musik. Wir haben gesungen und getanzt. Viele haben Instrumente spielen gelernt.
    Der reformpädagogische Ansatz, zweifellos ein Kind jener Zeit – aber er überzeugt mich; wie sie die jungen Leute zu gesellschaftlichem Verantwortungsbewusstsein hinführten, durch eigene Erfahrung, nicht theoretisch, leuchtet mir ein. In jenem Institut in der Nähe von Kayseri, wo Mustafa gearbeitet hatte, legten sie Pfirsichplantagen an, die nach wenigen Jahren schon so ertragreich waren, dass sie durch den Verkauf der Früchte unabhängig wurden vom Staat oder auch von anderen Geldgebern, und also frei zu entscheiden, in was sie den Gewinn investierten, ob in einen Geräteschuppen oder einen neuen Traktor oder was sonst.
    Als ich Magdalena heute auf die Dorf-Institute ansprach und bedauerte, dass sie so früh schon geschlossen wurden, sagte sie: Ja, sehr schade. Und wissen Sie, das Besondere am Konzept war, dass jeder und jede erfolgreich abgehen sollte, alle nach ihren Fähigkeiten; und dass sie was sie gelernt hatten weiterzugeben sich verpflichteten.
    Warum eigentlich wurden diese Institute so bald schon geschlossen?
    Wegen angeblicher sozialistischer Umtriebe, was natür-lich Quatsch ist. Diese hysterische Angst, die geschürt wurde Anfang der 50er Jahre! Aber seit wir zum Nato-Block gehörten, mussten wir uns nach der West-Decke strecken, im Korea-Krieg, auch später dann während der eskalierenden Kuba-Krise. Die in den Dorf-Instituten waren ganz einfach zu frei, zu unabhängig, jeder Kontrolle entzogen. Darum wurden sie verboten. Die Türkei sähe heute anders aus, wenn sie weiterexistiert hätten!
    Sie meinen, nicht so viele Kopftücher liefen herum?
    Ach, das Thema lassen wir jetzt!, winkte sie indigniert ab, stand auf und ging, wie sie es nannte, sich frisch machen nach dem Essen.
    Diese alten Herrschaften, die das Glück hatten, an das Gute im Menschen noch glauben zu können, mindestens an die Erziehbarkeit des Menschengeschlechts!
    Zurückblätternd in meinem Heft sehe ich: Nicht gefragt habe ich nach Robert Anhegger, dem Mann an Muallas Seite. Ihm bin ich, nach einem Vortrag von Mualla, vorgestellt worden. Der Zufall will es, sagte er, dass ich in meiner frühen Jugend Ihrem Vater begegnet bin. An der Universität in Zürich, Anfang der 30er Jahre wird es gewesen sein, wir kamen nebeneinander zu sitzen in irgendwelchen germanistischen Kursen oder Seminaren. Ihr Vater imponierte mir, weil er Fragen stellte, anders als die meisten von uns. Wie schön, dass ich nun in meinen späten Jahren auch Sie, seine Tochter, noch kennenlernen darf!
    Der Zufall will es gefällt mir; und dass er es so unprätentiös sagte.
    Ob er und Mualla verheiratet waren? Oder lebten sie, wie viele dieser Pioniere, ohne vor dem Standesbeamten oder dem Imam die Ehe vollzogen zu haben, frei zusammen, gebunden einzig durch ihr persönliches Wort?
    Magdalena, strahlend frisch, das hennarote Haar straff zurückgekämmt und zum Knoten gebunden, ihre Lippen wieder feuerrot geschminkt, stöckelt auf ihren hohen Absätzen quer durch den Raum; der Kellner und der Oberkellner verbeugen sich, als

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