Mitte der Welt
sie an ihnen vorbeigeht.
Jetzt gehen wir!, sagt sie, an den Tisch herantretend. Nun haben Sie genug gefragt! In einer halben Stunde kommt mein nächster Schüler.
Sie unterrichten auch am Sonntag?
Ja, manche können nur sonntags kommen.
Der Kellner bringt die Mäntel, hilft Magdalena hinein, sehr galant, reicht ihr dann unauffällig das Päckchen mit den Nierchen, läuft zur Tür, reißt sie auf für sie – sie tritt hinaus ins Freie. Ich folge ihr.
Ja, nach Hause begleiten dürfe ich sie.
Meinen Arm aber biete ich ihr nicht wieder an, sondern versuche, als wir die verkehrsreiche Ismet Inönü Caddesi überqueren, dicht an ihrer Seite zu sein, falls sie stolpern sollte; und frage, als wir die steile Gasse hinabgehen, nach Robert Anhegger.
Kommen Sie mit in die Wohnung, ich werde Ihnen einen Artikel über Robert mitgeben.
Im Taxi nun lese ich: Geboren ist Robert in Wien, im selben Jahr wie mein Vater. Schule und Studium absolvierte er in verschiedenen Städten Europas und emigrierte schon früh in die Türkei, auch seiner ersten Frau wegen, die Jüdin war. Er forschte und schrieb und lehrte an Schulen und Universitäten, und die Gründung des Deutsch-Türkischen Kulturinstituts, des späteren Goethe-Instituts, geht maßgeblich auf ihn zurück.
Vor allem aber: dass er meinen Vater in so frühen Jahren kannte und wie er von ihm sprach, in fast zärtlichem Ton – warum nur bin ich der Einladung, ihn und Mualla zu besuchen, bis heute nicht gefolgt!
Demnächst will ich es tun!
Und Magdalena den Artikel über Robert morgen, wenn wir uns beim montäglichen Mittagessen treffen, zurückzugeben, darf ich nicht vergessen.
VERSCHWUNDENE GÄRTNERSLEUT
In Karaköy angekommen stehen wir am Wasser, das heute kaum bewegt ist; auch die Möwen, sonst kreischend hinter den Abfällen her, die die Fischverkäufer über Bord werfen, hocken träge auf dem Gestänge der Dampfschiffe.
Und drüben beim armenischen Patriarchat, sagt Arzu, ist noch die der Gottesmutter geweihte Kirche, und auch Surp Hresch Dagabet in der Nähe vom griechischen Patriarchat wäre sehenswert, und Ayvan Saray weiter hinten am Goldenen Horn.
Arzu, die zierliche, dunkelhaarige Frau mit den hellgrauen Augen und dem milchweißen Teint, ist Kunsthistorikerin an einer der Universitäten und kennt Istanbul wie wenige. Sie liebe diese Stadt, sagte sie, und wenn sie anderen ebenfalls die Augen und das Herz öffnen könne für ihre Einzigartigkeit, mache es sie glücklich; weniger wegen des Geldes, als um diese Liebe weiterzugeben, darum mache sie die Führungen neben all ihrer sonstigen Arbeit.
Im Hinblick auf Verkins Familiengeschichte hatte ich sie nach einer armenischen Spezialführung gefragt.
Gänge durch die Stadt zu einem speziellen Thema interessierten sie sehr, sagte sie, nur müsse sie sich vorbereiten. Und als sie anrief, sie sei bereit: Wir sollten an einem Sonntag gehen, weil sonntags die Chance besteht, die Kirchen offen zu finden oder jemanden, der sie uns aufschließt.
Arzu führte zu Schulen und einem Hospiz, zu Geschäftshäusern mit Innenhöfen und einem mehr oder weniger verfallenen Kervansaray, in dem heute Werkstätten und Lager sind; einstmals soll dort eine armenische Druckerei gewesen sein. Und zu diversen Kirchen – in einigen wurde der Gottesdienst zelebriert, in anderen hing der Weihrauch noch in der Luft, in einer empfing uns muffige Kälte, als ob seit Jahren niemand mehr dort gewesen wäre; die letzte war verschlossen und niemand da, der wusste, wo ein Schlüssel aufzutreiben ist.
Auch auf der asiatischen Seite, sagt sie, gibt es mehrere Kirchen, und hinter Yedikule jenseits der Landmauer steht das große armenische Spital, ein interessanter Komplex, den anzusehen sich lohnt.
Aber vom Herumlaufen und Schauen erschöpft, beschließen wir, die Tour hier abzubrechen, Fortsetzung ein andermal, und setzen uns in eine Lokanta, mit Blick hinüber zur Yeni Cami, meiner Lieblingsmoschee, die heute als zartblaue Silhouette im goldenen Nachmittagslicht steht und auf dem fast ölig glatten Wasser sich spiegelnd schaukelt.
Beim Tee frage ich Anna, die die armenische Tour mitgemacht hat, wie denn ihr Kinderalltag aussah in Istanbul.
Das große alte Haus hatte sie mir einmal gezeigt, in dem sie, Vater, Mutter und Geschwister damals gelebt hatten, ein Palazzo, thronend über einer der Buchten am Bosporus.
Papa brachte uns mit dem Auto bis zum Tünel, dort ließ er uns raus, und das kurze letzte Stück hinab zum Alman Lisesi , dem
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