Mitte der Welt
mangelnder Mittel für standesgemäße Aussteuern. Denkbar also, sagt sie, dass das schöne Haus niemals im Besitz der Familie war, sondern stillschweigend von einem vermögenden Bankierfreund ihrem Urgroßvater überlassen wurde, zu welchen Konditionen auch immer, damit die gesellschaftliche Schmach des Bankrotts nicht sichtbar würde.
Aber wie geht es denn nun weiter?, frage ich.
Das Ganze ist eine echt levantinische »grande confusione«! Alle mischen mit, in Istanbul und in Athen und auch von Deutschland aus, und alle sind vor allem damit beschäftigt, dass möglichst viel herausspringt für sie selbst. Anna sagt es lachend, aber ihre Empörung ist unüberhörbar. Seit Jahren schon kämpft sie gegen diese »confusione«. Ich bewundere ihren noch immer nicht erlahmten Elan, und bezweifle gleichzeitig, dass sie es jemals wird entwirren können.
Ich frage, wer oder was denn die größten Schwierigkeiten verursache.
Die Griechen!, sagt Anna, ohne zu zögern. Die Anwälte in Athen, sie tun absolut nichts! Die einen sind zu alt und haben ihren Laden nicht mehr im Griff, die anderen sind mit all ihrer griechischen Überheblichkeit nicht in der Lage, zwischen damaligen und heutigen Verhältnissen zu unterscheiden, und verheddern sich in ihren eigenen Animositäten dem türkischen Staat gegenüber.
Arzu lächelt Anna verständnisvoll zu.
Obwohl die Türken, setzt Anna nach, auch nicht besonders hilfreich sind. Auch sie sind nicht interessiert, die Angelegenheit bald zu klären, da ja Häuser, deren Besitzer unbekannt oder nicht mehr ermittelbar sind, nach einer bestimmten Frist, wenn niemand sich meldet, an den türkischen Staat fallen.
Das Thema ist endlos! Ich hatte schon zu oft davon gehört – um Anna zu stoppen, frage ich Arzu, ob es in ihrer Familie Geschichten mit Griechen gebe, die erzählt würden.
Ja, eine Geschichte gibt es, sagte sie, die Geschichte von Onkel Nuri Bey, dem Bruder meiner Großmutter mütterlicherseits, meinem Großonkel also. Er hat als junger Offizier im Befreiungskrieg unter Ismet Inönü gekämpft und war beim Sturm auf Izmir dabei – insofern hatte er viel mit Griechen zu tun.
Arzus Lächeln, als sie es sagt –
Ich frage, ob ihr Großonkel den Brand vom alten Smyrna tatsächlich miterlebt habe; und die leidige Frage, wer das Feuer gelegt hatte – wie erzählte es Ihr Großonkel?
Meine Familie mütterlicherseits stammt von Saloniki, und der junge Nuri Bey durchlief, wie viele Söhne der osmanischen Eliten damals, die Militärakademie. Um mit den Jungtürken zu sympathisieren, war er zu jung; außerdem hätte ihn deren pan-turanischer Nationalismus wohl eher verschreckt, zart besaitet wie er war – er soll sehr musikalisch gewesen sein und äußerst poetische Gedichte verfasst haben, die leider alle verloren gegangen sind. Aber die Schmach der Niederlage im Ersten Weltkrieg – wie so viele Militärakademie-Absolventen war auch er nicht bereit, sie einfach hinzunehmen. Den Vertrag von Sèvres zu akzeptieren bedeutete, dass wir in die fast komplette Auslöschung der Türkei einwilligten – Onkel Nuri Bey sagte, da erst habe er das Ausmaß der machtpolitischen Verstrickungen erahnt, aber vollends erwacht aus jugendlicher Träumerei sei er, als die Griechen sich auf den Ruinen des Osmanischen Reiches ein Großgriechenland zu erobern versuchten. Da sei bei ihm der patriotische Funke übergesprungen. Bis dahin habe er sich als Osmane verstanden, so wie alle im kosmopolitischen Saloniki – das Leben, das wir lebten, war osmanisch, sagte er, nicht »türkisch«. Aber nun, als die Griechen sich »griechisch« gebärdeten und anatolischen Boden betraten und losstürmten ins Land hinein und weit über Bursa hinaus bis nach Eskişehir vorgedrungen waren und bereits in Richtung Ankara marschierten, als nichts sie aufhalten zu können schien, ihren Enosis-Traum zu verwirklichen, da sei er zum »Türken« geworden. Onkel Nuris Standardformulierung war: Je weiter uns die Griechen zurückdrängten ins Innere Anatoliens, umso leidenschaftlicher wurden wir zu Türken! Zwar war die Munition knapp und der Proviant auch – ganz anders als bei den Griechen, die ja von den Briten ausgerüstet und von Frankreich militärisch unterstützt wurden –, aber die wachsende patriotische Begeisterung machte das Unmögliche möglich: Der nationale Widerstand erwachte. Aus ihm wurde die neue Türkei geboren. Geburtsort Ankara, damals eine unbedeutende Provinzstadt mitten im anatolischen Hochland – aber:
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