Mitte der Welt
Ankara war frei!
Das Leuchten in den Augen des Onkels, wenn er davon sprach. Und der Schmerz, wenn er vom besetzten Istanbul sagte: Der Sultan war nur mehr eine Marionette der Siegermächte, die mit ihren Kriegsschiffen im Bosporus vor Anker lagen, die Geschützrohre auf den Palast gerichtet. Die Bevölkerung hungerte, Seuchen grassierten. Ihr könnt euch kaum vorstellen, wie miserabel es Istanbul ging damals! Die Stadt war überschwemmt von Flüchtlingen aus all den verlorenen Provinzen, aus Bulgarien, vom Balkan, aus dem Kaukasus; dazu zehntausende »weißer« Russen, die Reste der Weißen Armee, die sich übers Schwarze Meer vor den Roten nach Istanbul gerettet hatten.
Onkel Nuri Bey schloss sich jenen an, die um Mustafa Kemal herum sich zu sammeln begannen und neu zu formieren. Und im Winter 1920–21, während seine junge Frau, schwanger mit dem ersten Kind, vor den herannahenden Griechen floh – die gesamte Familie hatte Ankara auf Ochsenkarren verlassen, mit Sack und Pack waren sie unterwegs in Richtung Kayseri –, in jenem Winter, als es Ismet Pascha schließlich gelang, die griechische Armee bei Inönü zu stellen und sie, Schritt um Schritt, Schlacht um Schlacht nach Westen zurückzudrängen, da sei Onkel Nuri, vom heiligen Feuer des Patriotismus ergriffen, zum Helden geworden. Worin sein Heldentum wirklich bestand? Genau erzählt wurde es nie, sagt Arzu schmunzelnd. Nur dass er sich – so die feststehende Formulierung in unserer Familie – schützend vor das zarte Pflänzchen der ersten türkischen Nationalregierung gestellt habe, als es zertreten zu werden drohte.
Anna sagt darauf nichts.
Auch ich habe nichts zu sagen dazu – es ist wie überall, denke ich: Die alten Geschichten werden versenkt, verdrängt oder verbrämt, bis sie, unverdaut wie sie sind, wieder auftauchen in der nächsten, spätestens in der übernächsten Generation.
Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen nach den Griechen in unserer Familie, sagt Arzu nun: Es war der Verrat der Griechen, der Onkel Nuri zutiefst gekränkt hat, bis an sein Lebensende. Wie nur hatten sie mit den Westmächten gemeinsame Sache machen können – sahen sie denn nicht, dass sie von denen benützt wurden! Sie haben es teuer bezahlt, dreißigtausend Tote, die sie allein in der Schlacht bei Sakarya zu beklagen hatten – so seine Worte. Die Familienlegende berichtet, dass Onkel Nuri sich erst nach dieser Schlacht ein paar Tage Urlaub gegönnt habe; erst als die griechischen Verbände sich westwärts zurückzuziehen begannen und der Generalsieg sich abzeichnete, habe er seinen Erstgeborenen gesehen, der bereits ein halbes Jahr alt war, und ihm den Namen Zafer gegeben – Sieg.
Übrigens: Onkel Zafer ist ein sehr feinsinniger, liebenswerter alter Mann, der heute in Florida lebt; einstmals lehrte er in Berkley Geschichte, Schwerpunkt Nahost, und war, was Wunder, nicht einverstanden mit der Interpretation jener heroischen Zeit, wie sein Vater sie sah. Das Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn war so gravierend, dass sie den Kontakt schließlich abbrachen. Möglicherweise aber spielte mit, dass Zafer, was jedoch nie laut ausgesprochen wurde, mit einem Mann zusammenlebte. Nuri Bey, der Held, hatte keinen schwulen Sohn – es konnte nicht sein! Nie wurde in Onkel Nuris Anwesenheit über den missratenen Erstgeborenen gesprochen. So ist das mit den Helden und ihren Söhnen!
Ich frage Arzu, ob sie in Kontakt sei mit dem Onkel in Amerika.
Ja, im Frühsommer habe sie ihn besucht und sich wunderbar mit ihm unterhalten, wenn auch sein Türkisch, das er ja kaum mehr gebrauche, ein sehr altertümliches sei. Zafer ist eben Amerikaner geworden und genießt seinen Ruhestand, indem er sich vor allem mit seinem Garten beschäftigt. Darin zieht er die herrlichsten Rosen, duftende alte Sorten aus – wen wundert’s! – Persien und der Türkei. Und was macht die Geschichte?, fragte ich ihn. Die, sagte er, überlasse er der nächsten Generation; Geschichte, meine Liebe, die ist immer so oder so und immer auch ganz anders. Wie es wirklich war – nur die Ignoranten wagen zu behaupten, sie wüssten es!
Und der Sturm auf Izmir? Das levantinische Smyrna muss eine wunderschöne Stadt gewesen sein, wie auf alten Fotografien zu sehen ist. Was hat Ihr Großonkel von diesem Sturm erzählt, war er wirklich dabei?
Nun, Sie können sich denken, wie er erzählt hat! Zweifelsfrei haben die Griechen die Stadt angezündet, um sie uns »Türken« nicht überlassen zu müssen! Dass Onkel
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