Mitte der Welt
Deutschen Gymnasium, gingen wir zu Fuß. Unsere Mutter wollte nicht, dass wir von Vaters Büro in Şişhane zu Fuß bis hinüber zur Schule gingen. Und außerdem hat sie uns fast täglich eingeschärft, dass wir in Beyoğlu in der Mitte der engen Gassen gehen und uns immer an den Händen festhalten, damit wir, falls etwa Türken nach uns hübschen blonden Kindern greifen sollten, leichter entwischen könnten. Anna lacht: Dabei kannten wir überhaupt keine Türken! Nur, dass denen nicht zu trauen ist, wussten wir. Ob es stimme, fragte ich mich natürlich nicht, ich war ja noch ein Kind. Es war eben so! Wir lebten in Istanbul und hatten mit Türken nichts zu tun. Auch von unseren Leuten war niemand Türke. Der Gärtner war Grieche. Ebenso seine Frau; sie war unsere Köchin. Nein, nicht einmal die Frauen, die die Wäsche wuschen und plätteten. Gut Türkisch sprechen konnte bei uns niemand. Meine Mutter sprach Griechisch mit den Leuten im Haus, auch wir Kinder sprachen Griechisch mit ihnen; und auch unten im Ort sprachen wir Griechisch, damals lebten ja noch sehr viele Griechen in den Dörfern am Bosporus. En famille sprachen wir Deutsch und je nachdem, wer zu Besuch bei uns war, Französisch, Englisch, Italienisch.
Annas Mutter entstammt väterlicherseits einer Sippe, ursprünglich von Samos, aus der viele sich in osmanischen Diensten als Diplomaten hervorgetan hatten und auch als Bankiers, Geschäftsleute, Reeder so erfolgreich waren, dass der Familienname heute noch wie eine blanke Münze schimmert.
Als Anna ihn nennt, Arzus Staunen: Maşalla – von denen sind Sie eine!
Warum eigentlich, frage ich, seid ihr damals aus Istanbul weggezogen?
Anna, halb lachend, halb wütend: 1957 brannte der Dachstuhl – das war Punkt eins. Und weil die Feuerwehrmänner mit Bosporus-Wasser gelöscht hatten, was natürlich idiotisch ist, blieben die Wände vom Salzwasser ewig feucht und muffig!
Arzu, halb lachend ebenfalls: Die Feuerwehrmänner waren natürlich Türken!
Ja, oder Kurden! Oder Tscherkessen oder Bulgaren – was weiß ich! Jedenfalls 1959, da machte mein Bruder Abitur und wurde zum Studieren nach Deutschland geschickt. Und 1960 war der Putsch, Menderes gestürzt. Die Zeiten danach waren schlecht und unsicher, besonders für meinen Vater als nichttürkischen Geschäftsmann. Mich, die Kleinste, schickten die Eltern bald ebenfalls nach Europa, ins Internat in die Schweiz; nach Istanbul kam ich nur noch für die Sommerferien. Und plötzlich dann, im Sommer 1964, waren der Gärtner und seine Frau verschwunden, abgehauen nach Griechenland. Die Griechen in Istanbul mussten sich ja nach der Verschärfung der Zypernkrise entscheiden: Entweder nahmen sie die türkische Staatsangehörigkeit an, oder sie verschwanden innerhalb von vierundzwanzig Stunden und ließen alles Hab und Gut zurück. Bekanntlich sind die meisten damals gegangen, nach Griechenland – das für sie, die immer in Istanbul gelebt hatten, ein fremdes Land war. Und bald danach sind auch meine Eltern weg, nach Deutschland; im Rheinland ließen sie sich nieder. Die Sommerferien verbrachten wir nun in Griechenland, auf Samos, dort traf die ganze Familie zusammen. Istanbul verloren wir aus dem Blick, und das große alte Haus über der Bucht, das meine Mutter so sehr geliebt hatte, wurde zum Traum.
Anna, in diesen Tagen wieder einmal in Istanbul, schlägt sich zum wiederholten Male mit Anwälten und Beamten auf Grundbuch- und diversen anderen Ämtern herum, um vielleicht doch endlich anerkannt zu bekommen vom heutigen türkischen Staat, dass das herrschaftliche Anwesen in osmanischer Zeit ihrer Familie gehörte – ein schwieriges Unterfangen, da im Grundbuch nicht der respektable griechische Familienname eingetragen ist, sondern ein türkischer.
Der Urgroßvater habe das Haus über einen türkischen Freund gekauft, weil es den Griechen nicht mehr gestattet war, Grund und Boden zu erwerben, seit sich griechische Untertanen im 19. Jahrhundert der osmanischen Herrschaft zu entledigen und einen eigenen Staat zu gründen vermocht hatten – so die Version von Annas Mutter.
Anna selbst meint, dass der Urgroßvater, der als Bankier Bankrott gemacht hatte, wegen lauernder Gläubiger unmöglich ein Haus auf seinen eigenen Namen bauen lassen konnte, es sei denn über einen Strohmann, mit Geld aus geheimen Töpfen. Oder vielleicht sei tatsächlich kein Geld mehr vorhanden gewesen; dafür spreche, dass mehrere Großtanten unverheiratet blieben, vielleicht ja wegen
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