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Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge

Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge

Titel: Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
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sitzt einer neben mir
und versucht, mir klarzumachen, daß die Beta-Enzyme oder Endyme oder Ethyme,
die in pflanzlichen Proteinen, wie vor allem in Nachtschattengewächsen,
insbesondere in Sauerampfer, oder in tierischem Eiweiß enthalten seien, dem
Körper das natürliche Lecithin entzögen und schwere Enzephalose mit
zyrrothischen Nebenerscheinungen und meistens im finalen Stadium Nephrosklerose
verursachen. Kopfschmerz, Seitenstechen und Erbrechen kündigten an, daß die
Milz unheilbar angegriffen und auch die Gallenblase in Mitleidenschaft gezogen
sei, vor allem, wenn man trinke. (Ich trinke.) Ein Schuß Fernet-Branca könne,
selbst wenn man ihn mit schwerem Wasserstoff verdünne, die gesamte
Darmperistaltik lahmlegen, denn er enthalte genug Gerbsäure, um vierzig
Taubeneier der Größe von taubeneiergroßen Hagelkörnern zu gerben, das liege an
seinem starken Gehalt an Ameisensäure, die, oral genommen, weitaus schädlicher
sei als Hexamethylentetramin, das ja heute in allen Milchprodukten enthalten
sei, vor allem in uperisiertem Quark. Auf Kriechtiere, Molche, Lurche und
gewisse Spaltfüßler wirke — wie die beiden Nobelpreisträger Fitzgerald und
Blumenbeim nachgewiesen hätten — schon ein Fingerhut voll letal. Also dann
schon lieber in den Himmel, aber da gibt es Joghurt. Man weiß bald wirklich
nicht mehr, wohin.
    Ja, ich trinke. Du auch? Ich
meine das Glas in Deiner Hand zu sehen, aber das mag eine optische Täuschung
sein, das kommt ja häufig vor, vor allem, wenn man trinkt. Dafür rauche ich
nicht mehr, und seit ich nicht mehr rauche, huste ich, aber das ist kein
rechter Ersatz. Dennoch, ich kann nicht klagen, so gern ich es auch täte. Es
geht mir gut. Seit es heißt, man solle Energie sparen, gehe ich nicht mehr zu
Fuß, sondern fahre überall hin mit dem Auto. Manchmal, wenn auch nicht oft,
frage ich mich, was wir eigentlich mit der überschüssigen Energie anfangen
sollen. Aber die Antwort ist natürlich: sparen — das weiß schließlich jedes
Kind. Bald wissen es nur noch Kinder.
    Es versteht sich unter diesen
Umständen, daß ich auch keine Treppen mehr steige, sondern nur noch den Lift
benutze. Das kann natürlich auf andere Weise ein Gefühl der Frustration
auslösen. Im Hotel österreichischer Hof< in Salzburg hängt ein Schild im
Lift, auf dem steht: >Nur für sechs Personem. Du kannst Dir vorstellen, daß
man an einem stillen Vormittag zu festspiellosen Jahreszeiten mitunter lange
warten muß, bis diese sechs zusammen sind. Besonders ärgerlich ist es
natürlich, wenn die sechste Person mit ihrem Ehepartner auftritt und, da ich
allein bin, mir meine — übrigens angeborene — Höflichkeit gebietet, dem Paar
den Vortritt zu lassen, um nun wieder allein dazustehen und auf eine neue
Mannschaft zu warten, bei der sich ja nun wieder dieselbe Konstellation ergeben
mag, in welchem Fall ich natürlich das Höflichkeitsmanöver nicht wiederhole und
es diesmal einem anderen Einzelstehenden überlasse, das Opfer zu sein. Aber der
steht schon hinten im Lift und sieht auf den Boden. Ich vertiefe mich also in
die im Lift angeschlagene Speisekarte von gestern. Dennoch, hin und wieder habe
ich ein schlechtes Gewissen, denn ich denke an die Dame, die nun bei ihrem
Zimmer ankommt, um festzustellen, daß ihr unten wartender Ehegatte den
Zimmerschlüssel hat, und die nun nicht weiß, wann sie diesen Gatten
wiedersieht, da er — immer vorausgesetzt, er ist so höflich wie ich — unten
ebenfalls einem Paar Platz machen muß, aber ob er zu solchen Opfern neigt, muß
sie ja am besten wissen. Freilich vergesse ich bei diesen Gedankengängen wohl
den Umstand, daß nicht jeder Mensch meine konsequente Grundhaltung besitzt und
mit seiner Energie so haushält wie ich und daher den Weg über die Treppe wählt,
wobei ihn dann gewiß manch ein scheeler Blick eines Heraneilenden trifft, der
sonst vielleicht der fehlende sechste gewesen wäre, sofern nicht schon ein
anderes Paar herangeeilt ist, und auch er die Treppe nimmt.
     
    Übrigens male ich wieder.
Manchmal gegenständlich, manchmal ungegenständlich, manchmal aber auch so
gegenstandslos, daß auf dem Bild nichts zu sehen ist, was bei mir immer ein
Gefühl tiefer Beruhigung auslöst. Auf einer meiner Farbtuben steht, sie
enthalte echte Künstlerpigmente. Da muß wohl manch ein Künstler dran geglaubt
haben. Überhaupt finde ich, daß der Lebensvollzug immer grausamer wird. Die
potenziert anwachsende Umweltliebe, der natürlich auch ich allmählich

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