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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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Appetit bekam und vom immer gleichen Inhalt des eigenen Picknickkorbes schon ein wenig übersättigt war, kriegte eine Tasse überzuckerten Malzkaffee eingeschenkt und einen fetten Käsekuchen in die Hand gedrückt, manchmal auch eine Rohrnudel – wenn er vorher, oder sie, zwei Mark aufs Tablett gelegt hatte. Es war der Beginn einer Zeit, in der man auf die Schnelle schon mal wieder eine Mark über hatte, wenn es sein musste.
    Und weil das so war und weil deshalb nicht mehr jeder Mensch im Land den bereits wieder fünfzehn Jahre alten Pfenning erst zweimal umdrehen musste, bevor er ihn ausgab, mussten die Menschen auch nicht mehr alle nur immer arbeiten und essen und schlafen, um zu leben, sondern ihnen blieb schon wieder ein bisschen Zeit, sich zwischendurch auch ein wenig Zeit zu nehmen. Und nicht alle von denen, die sich von ihrer Lebenszeit schon wieder ein bisschen Zeit nehmen konnten zum Leben, nutzten die zum Baden im See, sondern sie hockten sich hin und begannen ein bisschen nachzudenken: über sich und die anderen Leute; über den Staat, in dem sie lebten; über die Wirtschaftsform, die sie nährte. Und siehe da, Unruhe begann in ihnen zu keimen, Unbehagen breitete sich aus, und ein anschwellendes Misstrauen gegenüber den amtlichen Verlautbarungen und der veröffentlichten Meinung wurde schließlich, Pulsschlag für Pulsschlag, zu einer bisher ganz unbekannten Aufsässigkeit der nachdenklichen Menschen gegenüber den gleichgültigen und jenen, die diese für ihre Zwecke immer wieder einspannen und irreleiten – früher, jetzt und leider wahrscheinlich auch in der Zukunft.
     
    Semi saß derweil im Studierzimmer des Klosterinternats und hatte in der linken Hand einen Füllfederhalter, den er abwechselnd gegen die Schläfe hielt und dann wieder zwischen die Zähne schob, um darauf herumzukauen, denn so war der Präfekt zufriedengestellt und überzeugt davon, dass er lernte, während Semis rechte Hand in der Hosentasche den klitschnassen Schwanz wichste, der durch das Loch hereinragte, das er mit einem kleinen Taschenmesser zuvor hineingeschlitzt hatte.
    Er gehörte noch nicht zu den Nachdenkern. Kapiert hatte er noch gar nichts. Höchstens, dass die Sexualität eine große Sauerei ist. Denn das Malheur, das dem Abspritzen folgte, war die Schwierigkeit der sofortigen, unauffälligen Reinigung der vom Sperma besudelten Hand und Hose. Was an aufgezwungener Sexualität hinter ihm lag, als tiefe, unheilbare Wunde, die er davongetragen hatte, ruhte tief versenkt in seinem Innern.
    Er hatte diese Geschehnisse im Moment erfolgreich verdrängt und erlebte noch einen Rest von Kindheit. Nicht unbeschwert, das nicht, aber auch nicht niedergedrückt vom Geschehen. Der freundliche Pater Ezechiel war aufgestiegen in der Hierarchie. Man munkelte, er würde demnächst zum Abt gewählt werden. Seine ihm davon aufgezwungene, erhöhte Geschäftigkeit erleichterte ein wenig Semis Dasein. Dem Ort war er trotzdem ausgeliefert.
    In seinem Körper tobte also noch das individuelle Wachstum, während draußen in der Welt sich schon wieder das gesellschaftliche Wachstum regte – wieder auf eine ganz neue Art, aber auch wieder wie schon mal da gewesen.
     

     
    Um diese Zeit saßen an einem späten Augusttag zwei fein gekleidete Herren nebeneinander auf der hölzernen Bank, die rund um den meterdicken Stamm des großen Kastanienbaumes herum gezimmert war, der auf der Seeseite des See wirtshauses seine gekrümmten, mit saftigem Laub bebuschten Arme ausbreitete, und schauten mit harten Gesichtern hinaus auf den im milden Spätsommerlicht gräulich blau schimmernden See. Der eine war Fachmann, ein Laie der andere. Sie sprachen über Politik und meinten sich selbst.
     
    SPEZIALIST : Ich finde solche Stimmungen abscheulich. Sie machen sentimental. Kommt daher vielleicht diese lauwarme Heimatseligkeit der Bewohner? Von dieser föhnigen Luft- und Wassermelancholie?
    LAIE : Was fragen Sie mich? Ich finde das eher beruhigend. Sentimental macht mich das nicht. Wenn Sie sich dieses Licht anschauen, dann finden Sie das in beinahe allen Landschaftsbildern von van Gogh. Da ist aber von lähmender Traurigkeit nicht viel zu spüren. Denn das Grundmotiv dieser Bilder ist Heiterkeit, in die Trauer oder Bedrohung vielleicht hineinscheinen, sie aber niemals beherrschen. Dafür ist der Blick, den diese Bilder spiegeln, viel zu intelligent.
    SPEZIALIST : Ich rede ja auch nicht von Frankreich. Ich rede von hier.
    LAIE : Gut. Dann rede ich von Corinth. Da

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