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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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finden Sie ähnliche Stimmungen vom Walchensee. Oder bei den Blauen Reitern ist es der Staffelsee. Immer wieder taucht in den Versuchen der Wiedergabe dieses eigenartigen Lichts diese Voralpenatmosphäre auf. Und die hat, wie Sie ganz richtig sagen, tatsächlich mit dem Föhn zu tun, der den einen Kopfschmerzen macht, während er gleichzeitig andere beruhigt. Vielleicht haben Sie einfach nur Kopfweh und sind nicht sentimental, sondern aggressiv. Entspannen sollten Sie sich. Nicht dass Sie einen Schlagfluss kriegen.
    SPEZIALIST : Da irren Sie! Mich lässt das Wetter völlig kalt. Leider scheint das bei den hiesigen Bewohnern nicht der Fall zu sein. Ich bin hier, um die Bereitschaft für den Verkauf von Seegrundstücken an die öffentliche Hand auszukundschaften. Man will Land, das direkt an den See grenzt, sicherstellen, um öffentliche Badeplätze anlegen zu können. Der Druck von Seiten der sozialen Demokraten und einiger Bürgerinitiativen auf die Regierung ist mittlerweile so groß, dass Handlungsbedarf besteht. Aber wer immer auch mit diesen dumpfen Kuhhirten, denen hier ja alles gehört, ins Gespräch kommen will, dem sagen die alle das Gleiche: Wir verkaufen nix! Und schlagen einem die Tür vor der Nase zu. Diese Uferstreifen, die in Frage kämen, sind aber alle mit Schilf zugewachsenes Ödland oder Sumpfwiesen. Völlig wertlos. Wenn ihnen da fünf Mark für den Quadratmeter geboten werden – Sie müssen sich das mal ausrechnen: fünf Mark! In der Summe sind das für jeden Bauern, der ein solches Stück Land hat, schnell 30 - bis 50000 D-Mark, so viel Geld hat von denen noch nie einer gesehen! –, wenn ihnen ein solches Angebot gemacht wird, dann geben sie zur Antwort: Wir brauchen das Heu der Seewiesen als Einstreu für den Stall! Oder: Wo sollen unsere Kühe ausruhen? Sie schlafen doch auch im Bett. – So Zeug kriegt man zu hören. Da verkümmert Heiterkeit. Ich bin eigentlich gut gelaunt hier angekommen.
    LAIE : Sie meinen, Sie können ein paar einfältige Bauern leicht über den Tisch ziehen mit ein paar Geldscheinen für ein Stück Land, das hinterher einen vielfachen Wert besitzt, als Badeplatz, selbst wenn der für einen öffentlichen Zweck gedacht ist? Ja? Aber mit Geld können Sie da noch gar nichts machen! Die wissen noch nicht, was Geld überhaupt ist, weil sie noch nie mehr als ein paar Mark in der Hand hatten: Sie waren immer arm. Deshalb sind sie noch unempfindlich. Geld hat für sie nur einen Nennwert. Wenn Sie ihnen sagen, Sie zahlen 50000 für eine Sumpfwiese, damit andere drauf baden können, dann halten die Sie für einen betrügerischen Lumpen. Mehr nicht. Baden ist für Bauern kein Kriterium. Wohl aber die Streu, die auf diesen Wiesen wächst. Da haben alle ganz persönliche Erfahrungen mit diesen Streuwiesen. Jeder. Schon von Kind auf. Auf diesen Wiesen verbringen diese Leute im Herbst ihre schönsten Tage im Jahr. Und zwar allein. Ohne die Fremden, weil die da längst schon wieder weg sind. Zur Streuernte fährt die ganze Familie und ist den ganzen Tag gemeinsam unterwegs, weil diese Wiesen so weit abgelegen sind vom Dorf, dass sie zwischen den einzelnen Arbeitsgängen nicht dauernd hin- und herfahren können mit ihren Fuhrwerken. Sie haben Speisen und Getränke dabei und nehmen ihre Mahlzeiten an Holztischen und Bänken ein, die sie sich selbst an den Waldrand hingezimmert haben, der oberhalb des Sees die Sumpfwiesen begrenzt. Da sitzen sie dann in diesem rätselhaft harten Mittagslicht des Altweibersommers und später im betörend klaren Abendlicht der untergehenden Herbstsonne – den ganzen Tag über ist die sie umgebende Landschaft hart und klar –, ohne dass es ihnen rätselhaft vorkommt oder betörend. Und warum? Ganz einfach: Weil sie es kennen und schön finden! Ohne Begriff. Und weil es sie wärmt. Und sie spüren eine Gemeinsamkeit, die sich sonst nur noch an langen Winterabenden einstellt, oder an Weihnachten. Aber auch da nicht so wie an diesen Herbsttagen. Denn diese Herbsttage sind die goldenen Tage in ihrem Leben, die sie ohne Schweiß im Freien verbringen. An diesen Tagen, wenn sie gemeinsam arbeiten, gemeinsam essen und gemeinsam der untergehenden Sonne zusehen, kehrt für sie ein Urzustand zurück, den sie gespeichert haben, ohne es zu wissen: das gemeinsame Sitzen am Feuer vor der steinzeitlichen Höhle. Diese paar Tage auf den Streuwiesen sind für sie das, was sie sonst nie haben und von anderen nur vorgeführt bekommen, ohne es je wirklich zu begreifen: Urlaub.

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