Mittelreich
Das sind ihre paar freien Tage im Jahr, wo sie rasten können, ohne das Gefühl zu haben, sie würden faulenzen. Verstehen Sie? Es sind die einzigen Tage im Jahr, in denen die Bauern die Sonne genießen können, ohne Hetze und ohne Existenzangst: Die Ernte ist eingefahren, und das Wetter spielt keine Rolle mehr. Denn es ist egal, wie lange die Streu im Regen liegt. Sie muss nur trocken sein, wenn sie eingefahren wird. Sie besitzt keine höhere Qualität. Verstehen Sie? Natürlich verstehen Sie es nicht. Denn Sie kommen daher und beleidigen die Leute mit abgegriffenen Geldscheinen und sind ratlos, wenn man Sie weiterschickt. Sie haben sich für Ihren Auftrag nicht gut vorbereitet, weil Sie gedacht haben, Sie können hier Geschäfte machen ohne Geschäftspartner. Das ist arrogant. Mehr nicht.
SPEZIALIST : Was schlagen Sie vor?
LAIE : Sie müssen sich Zeit lassen! Zeit! Dann arbeitet die für Sie. Sie hat die meiste Überredungskraft. Die Bedürfnisse der Leute müssen sich erst einmal ändern! Dann ändern die Leute sich auch. Ob zum Besseren? Das bleibt dahingestellt. Aber zuerst einmal müssen Sie ihnen, allmählich, aber stetig, immer mehr Geld in die Finger geben. Das besorgt der Tourismus, da müssen Sie sich gar nicht drum kümmern. Da lernen sie dann Mark für Mark den Wert des Geldes kennen und alles, was damit verbunden ist und was sich damit machen lässt. Wenn Sie ihnen gleich einen ganzen Haufen Geld in die Hände drücken, dann kriegen sie nur Angst und glauben, das geht nicht mit rechten Dingen zu! Wenn sie aber nach und nach immer etwas reicher werden – das darf nie zu viel sein, aber immer wieder ein wenig mehr –, dann werden sie auch gieriger nach und nach, und sie verlieren den ideellen Blick auf ihre Wiesen, den jahrhundertealten, der ihnen bisher die Existenz gesichert hat und sie über die Zeiten hat kommen lassen, und sie beginnen zu kapieren, dass so eine Wiese ja mehr ist als nur Gras und Heu, die ihnen ein paar Milchpfennige sichern, und dass Sonne und Wärme auch woanders zu haben sind. Und wenn dann die nächste Generation das alte Erbe übernimmt, dann ist die überlieferte Treue zu Grund und Boden schon gebrochen wie die Ehe nach dem ersten Betrug, und es wird kein Halten mehr geben. Dann werden sie Ihnen die Wiesen nachschmeißen, die nur Arbeit machen und den Schweiß treiben.
SPEZIALIST : So lange kann ich nicht warten. Der Druck aus der Stadt wird immer größer. Die einfachen Leute sehen nicht mehr ein, dass einige wenige Zugang zum See haben, die meisten aber nicht. Im Hauptort und den reichen Nachbarorten führen sozialistische Gruppierungen bereits Seeuferbesetzungen durch. Auf diesen Grundstücken und in den dazugehörigen Häusern leben einflussreiche Leute, die ihre Ruhe haben wollen vor dem Mob. Die machen einen anhaltenden und unerhört lästigen Druck auf die Regierung und fordern, dass brachliegendes oder auch bewirtschaftetes Bauernland bereitgestellt werde für Badeplätze, damit in ihren Parklandschaften wieder Ruhe einkehrt. Die haben keine Lust, auf eine nächste Generation zu warten. Die fordern Enteignung der noch freien und brachliegenden unbebauten Seegrundstücke, und zwar jetzt gleich, bevor sie selber vom Pöbel enteignet werden.
LAIE : Wer soll diese Enteignung denn durchführen? Die sozialen Christen von der Union etwa, die fast allein die Regierung bilden? Die werden doch nicht so blöd sein, ihre sicherste Klientel, die Bauern, mit so was zu verstören.
SPEZIALIST : Natürlich nicht. Dafür sind die sozialen Demokraten zuständig. Die kriegen von den Bauern sowieso keine Stimmen, weil sie als Partei der Arbeiter gelten, auch wenn sie es schon lang nicht mehr sind und die Bauern nichts mehr fürchten, als den Neid der Besitzlosen auf ihr Bauernland. Die Sozis erhoffen sich aber von dieser populären Maßnahme der Enteignung einen beträchtlichen Stim menzuwachs unter all den Kleinbürgern, die einmal im Jahr nach Jesolo fahren, um da das Baden zu lernen und Bekannte zu treffen, die auch immer dorthin fahren, und die dann die übrige Zeit des Sommers ihre Wochenenden an einem bayrischen See verbringen wollen, um das Baden zu üben für den nächsten Jesolosommer, wieder unter lauter Bekannten. Die sozialen Christen in der Union haben unter der Hand bereits signalisiert, dass sie einer entsprechenden Initiative der sozialen Demokraten nichts in den Weg stellen werden. Einzige Bedingung: Das stille Einverständnis unter der Hand muss gewahrt
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