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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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gierig von ihr eingesaugte neue Glück und der Drang, darüber zu berichten, anderen Teilhabe daran aufzuzwingen, um nicht ganz allein im eignen Sud zu schmoren. So häufelt sie, mit Jubeljammerstimme, auf den Seewirt ihr Malheur und überfordert ihn damit so würdelos, wie jede selbstgemachte Katastrophe vor allem andere überfordert und entwürdigt.
    Hans, ihr geschiedener Mann, war des Seewirts bester Freund, bis der Krieg zu Ende war und ihn als schwer erkrankten Trinker über ließ – unverwundet am Leib, zerfetzt im Inneren. Niemand hat es je erfahren, was genau geschah an seinen Einsatzorten, auch nicht der alte Freund. Auch der Seewirt konnte nur erahnen, was passiert war, um sich das Ausmaß dieser völligen Verwandlung in ein anderes Wesen zu erklären. Und so musste auch der Seewirt davon ausgehen, dass der Rotenbuchner ihm nur Halbwahrheiten überließ, zu seiner Meinungsbildung, den Rest jedoch tief in sich drin vergraben hielt.
    Demnach war der Rotenbuchner als Soldat zuerst in Serbien gewesen und danach in Griechenland. Der Aufenthalt da unten hätte ihm die Seele reingewaschen, erzählte er dem Seewirt, so schön sei alles dort gewesen: das Meer, die Landschaft und die Menschen. Gerade deshalb sei er schutzlos dagestanden, den Schrecken ausgeliefert, weil alles offen war bei ihm, den Bewohnern dieser Länder zugewandt, vereinnahmt von dem Zauber dieser ihm bis dahin unbekannten Landschaften und Menschen. Doch dann musste er das Kriegshandwerk verrichten, und das hätte ihn vielleicht ein wenig überlastet, ein wenig durchgeschüttelt und verwirrt. Deshalb trinke er nun hin und wieder einen Schnaps.
    Das war des Rotenbuchners Antwort an den Freund. Mehr Auskunft gab er nicht mehr, seit seinem Rückzug aus der Welt. Welcher Art sein Handwerk seinerzeit gewesen war, berichtete er nicht. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen, war seine hingerotzte Antwort auf des Seewirts wiederholtes Fragen. Lass uns lieber noch ein Zwetschgenwasser gurgeln, weil das hilft. Aber nicht das ewige Geschwafel und Gerede! Da kommt nichts Brauchbares heraus!
    Um ein normales Einmarschieren und eine geordnete Besetzung scheint es sich nicht gehandelt zu haben, erzählte der Seewirt dem Vormundschaftsrichter. So viel hätte er noch aus ihm herausbringen können. Danach sei er immer sofort hinausgeworfen worden aus der Küche, in der der Rotenbuchner seit Mitte des Jahres 47 Tag für Tag gesessen und getrunken habe. Am Anfang trank der Rotenbuchner noch die eigenen Bestände auf, denn er hatte Brennrecht auf dem Stankerhof. Ein schöner, gut geführter Hof, der viele Gäste aufnahm während der Saison.
    Bis von Flensburg kamen sie. Von daher kam als Kind die Kirsten mit den Eltern und verbrachte seitdem jeden Sommer auf dem Stanker. Sie hat den Rotenbuchner nie kennenlernen müssen, sie kannte ihn von Kind an. Erzogen und gebildet aber wurde sie im Norden. Die Eltern waren Ärzte, sehr vermögend, unterm Jahr verkehrte sie ausschließlich in einer höheren Gesellschaft aus Akademikern und Geschäftsleuten. Trotzdem hat sie sich in den jungen Rotenbuchner verliebt, schon vor dem Krieg. Sie haben ihre Liebe versteckt vor den anderen. Sie haben gelebt in den umliegenden Wäldern und Scheunen. Sie richteten sich Lager in Getreidefeldern und schliefen und liebten sich nächtelang zwischen halbreifen Ähren. Sie stahlen fremde Boote von den Bojen und lagen beieinander bis zum Morgengrauen. Dann schlichen sie ungesehen in ihre Zimmer. Ein Rausch, der drei Jahre lang dauerte. Furchtbar war das lange Jahr zwischen den Sommern. Sie fühlten sich wie Zugvögel im Käfig. Die Konvention hatte Hürden aufgerichtet: Für das Unerlaubte konnte keine Erlaubnis eingeholt werden; für das Ungeplante gab es keinen Plan; planlos waren sie aufeinander zugetrieben, und keinen Plan hatten sie, aus dem Käfig wieder zu entkommen. Die Arbeit auf dem Hof und später auf dem Schlachtfeld verlangte den ganzen Rotenbuchner, das Studium der Medizin alles von der jungen Frau.
    Im dritten, endlich frei von jeder falschen Scham durchlebten Sommer, wurde Kirsten schwanger und die Liebe zum Malheur. Sie ging in ihrer Not zum Wehrbereichskommando Hamburg. Ihr Anliegen war erwünscht, jede Geburt ein Kind für den Führer und das Land. Der Vater wurde ausfindig gemacht, und ein außerordentlicher Fronturlaub wurde gewährt. Rassisch wertvolles Leben war zu erwarten: der Vater, kraftvoll gewachsen auf südlichem Feld, von harter Arbeit auf Heimaterde gestählt – und

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