Mittelreich
brisante, aber dummerweise zugeklebte Briefe vielleicht sogar umadressiert an sich persönlich und alles, was nur irgendwie zu lesen war, sich einverleibt und eingespeichert, wo es, wenn es nötig wurde, abzurufen war: in sein Gedächtnis.
Fakten und Zahlen, die andere gut gebrauchen konnten, sich aber nicht die Mühe machten, sie sich selber zu beschaffen, weil sie mit einem materiellen Vorteil nicht unmittelbar verbunden waren, die konnten bei Viktor eingeholt und abgerufen werden. Es waren ausschließlich Informationen ideeller Art über private und öffentliche Verwicklungen, die der Befriedigung der niederen Instinkte dienten und die es bei ihm herauszukitzeln galt. Denn Viktor zierte sich, er war kein Lautsprecher, er war ein Leisetreter. Beziehungsgeschichten und Verwandtschaftsverhältnisse, Schwangerschaften und Kinderzahlen, Namen der Väter und ihrer unehelichen Kinder, das waren seine Spezialitäten. Aber auch im Leumund Zugereister kannte er sich aus. Bald waren ihm die Einkommen der Neubürger geläufig. Er wusste alles über deren Herkunft und Beruf. Über längst vergangene Vergehen dieser Leute war er informiert und ließ sich solches Wissen nicht auf einmal, sondern nach und nach und nur in kleinen Dosen aus der Nase ziehen.
Aber auch geheime Heldentaten unterschlug er nicht. Zum Beispiel, dass der Herr von Geist für den Geheimdienst spionierte, das wusste er genauso, wie er wusste, dass dessen Chef von jetzt und damals der berühmte Reinhard Gehlen war, General für die Abteilung Fremde Heere Ost , der fleißig Wühlarbeit fürs Reich geleistet und die roten Rotten Stalins unterwandert und verräterische Juden aufgespürt und an die SS geliefert hatte. Aber für solche Leite hat ja heitzutage keiner mehr was über, sagte er. Die müssen sich jetzt dummes Zeig anhören, von die Juden- und die Kommunistenfreunde. Doch der Herr von Gehlen wurde dann sogar noch Präsident für Spionage, und der Herr von Geist begann allmählich in den Ruhestand zu treten, mit Rasenschneiden und mit Heckenrosenpflanzen.
Nein, nein! Mit den Herren Geist und Gehlen fühlte Viktor sich verwandt – dank eigenem, geheim und still erworbenem Wissens.
Durch seine Hände lief der gesamte Briefverkehr der Seedorfer mit der Außenwelt. In seiner Phantasie enthüllten sich die interessantesten Zusammenhänge, Unwichtigkeiten wurden zu kleinen Geheimnissen verdichtet und dann zum gewichtigen Ereignis aufbereitet. Er hatte keinen Einblick in die Mysterien des Dorfes und seiner Bewohner, dafür war sein Blick nicht großzügig genug. Aber er hatte sich Einblick in die privaten Bereiche gesichert. Er hatte im richtigen Moment den Postmeisterposten übernommen. Und den beschwerte er seitdem mit sich und seinen Gelüsten wie eine große Wiege, in der er sich vom Alltag der anderen schaukeln ließ.
Ich werde müssen nun anfangen, mir allmählich Gedanken darüber zu machen, wem ich meine Ersparnisse werde können anvertrauen, wenn ich mal tot bin.
Am nächsten Tag nahm er sich frei und fuhr mit dem Zehn-Uhr-Bus nach Seestadt. Es war der Monat Mai im Jahre 1967 , und die Bäume schlugen aus.
In der Raiffeisenbank von Seestadt hatte Viktor seine gesamten Ersparnisse eingelagert und auf seinem Konto für seine Verhältnisse ein kleines Vermögen angesammelt. Viktor ging es gut. Er fühlte sich wohl in dem weichen Sitz direkt hinter dem Busfahrer. In einem solchen Bus könnte man auch mal mit Komfort bis Polen reisen, dachte er. Da käme man nach einem Tag an und wäre gut ausgeruht.
Der alte, gelbfarbene Postbus, der vorne noch die lange Motorschnauze vor sich hergeschoben hatte und so hart gefedert war wie ein Pferdewagen, mit Holzbänken und starren, steif geformten Rückenlehnen, der war vor einem halben Jahr von einem neuen, hochmodernen Bus aufs Altenteil verschoben worden, durch dessen bläulich abgedunkelte Rundumverglasung von jedem Sitzplatz aus ein Panoramablick auf die vorbeifliegende Natur zu haben war – wie in einem Film! –, und ohne dass man von der Sonne zugeblendet wurde. Da könnte man sich fühlen wie in einem Traum, wenn man mit einem solchen Fahrzeug würde noch mal durch die alte Heimat reisen, dachte Viktor sich, wie er an diesem Tag zum ersten Mal in einem Polsterstuhl in Richtung Seestadt fuhr: eine mit Samt ausgelegte Schmuckkassette, weich gefedert und aus Glas und sanft geschaukelt – keine Bodenwelle und kein Schlagloch waren mehr zu spüren. Nur der König Ludwig, no, der möchte früher mal
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