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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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unangenehm wird, was schon immer wieder mal vorkommt, dann reiße ich mich einfach zusammen und halte das aus. Meine Schwestern sind mir gleichgültig. Ich rede mit ihnen das Nötigste. Aber auch bei ihnen sehe ich keine Entwicklung, woran sich mein Interesse aufrichten könnte. Mit den Tanten führe ich immer wieder mal Gespräche. Irgendwie komme ich mit denen am besten aus. Das heißt, sie langweilen mich am wenigsten. Sie wirken irgendwie intelligenter als meine Eltern, und was an ihnen altmodisch und verschroben scheint, das bildet für mich die Angriffsfläche, wo ich mit meinen Fragen ansetzen kann. Damit ziehe ich sie zu mir herüber. Und ich sehe, wie sie mir willig folgen. Das ist eine Art Heimatgefühl, was ich beim Gespräch mit den Tanten fühle. Ich spüre eine Art machtvoller Geborgenheit. Denn die geht von mir aus. Ich kann diesen Zustand selbst herstellen, wenn ich will, indem ich die Führung im Gespräch mit ihnen an mich reiße. Und sie folgen mir, wohin ich will. Dann fühle ich mich wohl und stark. Das Einzige, was mir von zu Hause tatsächlich fehlt, wenn ich wieder zurück bin im Kloster,
    im Knabeninternat,
    im katholischen Institut,
    im Gebetstempel,
    im schwingenden schwengelnden Weihrauchfass,
    in der Mönchsfalle,
    im Bockstall der Hochgeistlichkeit in ihrer stinkenden Fleischlichkeit ...,
    das ist diese machtvolle Geborgenheit beim Gespräch mit den Tanten. Die vermisse ich.
    Aber insgesamt, wenn die Ferien aus sind und ich wieder zurück bin, dann bin ich vollständig vereinnahmt vom Lernen, das ich konzentriert betreibe, so dass ich ganz bestimmt nicht mehr durchfalle, sondern in drei Jahren meinen Abschluss gemacht haben werde. Ich bin errettend vereinnahmt vom Lernen und vom Theaterspiel, das mich sanft macht, wenn ich oft auf unerklärliche Art erregt und aufgebracht und aggressiv bin. Das Spiel mit der Sprache und mit den Figuren, die ich bin, schützt mich davor, zu morden.
    Mehr braucht es nicht. Weil mehr nicht mehr nötig ist. Aber in die Lebensspur zurück kommt man nie wieder. Das weiß ich jetzt.
     

     
    Viktor war jetzt im einundzwanzigsten Jahr beim Seewirt und würde von hier nicht mehr wegkommen. Das wusste er. Ihm gelang da einfach kein Impuls mehr. Vor ein paar Tagen, als er beim Kartoffelzupfen in Gesellschaft des Katers über das Ende des Fräulein Zwittau nachgedacht hatte, war ihm zum ersten Mal bewusst geworden, dass auch seine Tage gezählt waren. Vielleicht wäre es da klug, dachte er, sich noch einmal aufzuraffen und woanders neu anzufangen, weil ein solcher Aufwand keine Zeit für aussichtslose Grübeleien ließe. Aber gleich hatte er diese Möglichkeit wieder verworfen. Nicht einmal in Gedanken wollte er sich noch auf irgendwelche Veränderungen einlassen.
    Er saß träge in dem Ohrensessel, den ihm der Seewirt überlassen hatte, um in seinem Musikzimmer Platz für einen noch bequemeren Ledersessel zu schaffen, in dem er sich noch hingegebener an seine umfangreiche Plattensammlung verlieren konnte. Träge saß der Viktor da, und träge trieben seine Gedanken dahin. Er fühlte sich gerecht. Eine Unruhe oder gar eine Beschleunigung wollte er nicht mehr zulassen. Hier saß er, und hier wollte er bleiben.
    Es gab kein Gesetz, das ihm seinen Aufenthalt im Seewirtshaus bis ans Lebensende gesichert hätte. Aber er wusste auch, und er hatte es immer wieder und sehr genau beobachtet, dass es offensichtlich Brauch beim Seewirt war, lang gediente Hausgehilfinnen und Knechte nicht einfach vor die Tür zu setzen, wenn im Alter ihre Arbeitskraft erlahmte. Bei der Alten Mare hatte er es gesehen, und beim Alten Sepp, die beide im Seewirtshaus gestorben waren und danach mit allen Ehren auf dem Friedhof von Kirchgrub und auf des Seewirts Kosten im Dienstbotengrab beigesetzt und mit ihren Namen in Stein und Eisen verewigt worden waren. Und auch beim Valentin, der im letzten Jahr das 75 ste erklommen hatte, hätte alles den gewohnten Lauf genommen, wenn der sich seine letzten Lebenstage nicht unbedingt in seiner Heimat hätte ausverleiben wollen.
    Nach langem Zögern und wiederholtem Hinausschieben war er eines Tages nach getaner Arbeit in der Küche vor den Seewirt hingetreten und hatte um Erlaubnis angefragt. Voller Schuldgefühle und mit Selbstvorwürfen unterfüttert, zieh er sich mangelhafter Dankbarkeit dem Brotherrn gegenüber, bevor er schlicht zur Sache kam: Ich will im Grab der Vorfahren liegen, wenn ich tot bin, hatte er gesagt, aber eine teure Überführung meines

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