Mittelreich
Er hatte in der Ausbildung gelernt, dass Kleider Leute machen. Wer schäbig gekleidet ist und ungepflegt daherkommt, so die Bankenlehre, den sollte man möglichst zügig abfertigen. Dabei handle es sich in der Regel um Leute, die wenig kreditwürdig sind. Und gute Kunden der Bank sind die, die kreditwürdig sind. Die Betonung liegt auf Würde. Kredit wollen sie alle. Aber nur die Würdigen können die Zinsen stemmen und das Darlehen tilgen. Jetzt steht da aber ein sichtlich Unwürdiger und behauptet, das Geld auf der Bank gehöre ihm und nicht der Bank. Denn der Anzugträger, Herr Huber, Kundenberater bei der Raiffeisenbank in Seestadt, der hatte sich nicht vorbereitet, der war unvorbereitet in das Gespräch mit dem ehemaligen Prokuristen der Dresdner Bank in Kattowitz, Herrn Viktor Hanusch, gegangen. Und da zeigte sich jetzt, dass das ein Fehler war.
Wir versuchen unser Bestes, stocherte er im Nebel weiter, wir bemühen uns, den Wünschen unserer Kunden voll gerecht zu werden. Bevor wir aber einen Kredit vergeben können, müssen wir zuerst ein paar Fragen stellen. Das werden Sie doch verstehen?
Ich verstehe das schon. Aber Sie verstehen mich nicht, antwortete ihm der Viktor. Sie verstehen immer noch nicht, dass ich keinen Kredit möchte aufnehmen. Ich brauche keinen. Ich will mein Geld, das ich schon habe, krisenfest machen. Verstehen Sie? Ich will mein Geld vor einer Entwertung oder vor noch Schlimmerem schützen. Lesen Sie keine Zeitung?
Doch. Jeden Tag lese ich in der Zeitung.
No! Dann haben Sie doch sicher mitgekriegt, dass überall wird demonstriert. Die Studenten machen Rabatz in den Städten. Die führen sich auf wie die Hottentotten, statt zu studieren. Die schmeißen mit Steinen und zünden Kaufhäuser an. Die hausen alle in Kommunen und machen da ihre Schweinereien. Jede geht da ins Bett mit jedem. Soll man da nicht kriegen Angst um sein Geld? Früher hätte man die gesteckt ins Arbeitslager, so arbeitsscheues Gesindel. Da hätten sie können ihre überschüssigen Kräfte im Steinbruch auslassen und beim Torfstechen. Aber heutzutage laufen die frei herum. Da muss man sich selber vor schützen. Auf den Staat ist da kein Verlass mehr.
Aber was hat das mit der Anlagesituation zu tun?
No, was hat das damit zu tun? Denken Sie doch mal nach! Das ist doch alles kommunistisch. Russisch! Verstehen Sie! Und die Chinesen stecken auch hinter. Woher sollen die denn sonst kriegen da diese Molotowcocktails, die Studenten? Woher?! Na! Die können die doch nicht beim Hertie kaufen! Ne, ne! Das ist ne fünfte Kolonne, die da anrückt. Und was macht der Staat? Der schickt ein paar Polizisten los, mit Gummiknüppel. Wie sollen die denn aufhalten den Russen? Können Sie mir das sagen?
Nein.
Na also! Und wenn es nun wieder wird geben eine Inflation, infolge der Unsicherheit, oder vielleicht sogar eine neue Währungsreform? Was dann? Was wird dann sein mit meinem Gelde? Dann ist es weg! Verstehen Sie? Wertlos. Nur noch Papier. Ich hab das schon erlebt. Drum werde ich da nicht mehr nur zuschauen und nichts tun! Ein zweites Mal werd ich das nicht noch einmal tun! Ich möchte das jetzt anlegen, mein Geld. Drum bin ich heute hier.
Da stand der Herr Huber auf.
Wenn ein Mann erst einmal beweisen muss, dass er kreditwürdig ist, denkt er, dann ist er nicht mehr kreditwürdig – so gut auch seine Argumente sein mögen. Diese Lehrsätze geschultert im geschulten Hirn, ging der Anzugträger Herr Huber zum Telefon, das ganz allein auf dem eichenholzfurnierten Tisch stand, und wählte eine Nummer ...
Schicken Sie bitte Frau Fischer, damit sie den Herrn Hanusch möchte hinausbegleiten, weil der jetzt möchte gehen, sagte der Herr Huber in die Muschel und merkte gar nicht, dass er in seiner Blind- und Taubheit gegenüber Viktor und dessen Anliegen bereits dessen Diktion übernommen hatte. Aber er merkte ja auch nicht, dass die Sätze, die er ins Telefon sprach, der zweite große Fehler waren, den er an diesem Tag beging. Darum spielte es schon keine Rolle mehr, dass die Frau Fischer tatsächlich kam. Sie kam aber mit dem Herrn Scheitel und führte nicht den Viktor, sondern den Herrn Huber hinaus. Denn der Herr Huber wurde an diesem Tag abgelöst vom Filialleiter Scheitel, der den Viktor weiter zu Ende bediente und dessen klare Wünsche an die Raiffeisenbank Seestadt haarklein erfüllte. Er führte, auf dessen Wunsch, den Viktor unter Einhaltung aller Sicherheitsvorschriften in den gut gesicherten Tresorraum der Seestädter
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