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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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immer verhärmter zu werden, als ob ihm langsam ein Vorhang vorgezogen würde. Bald beantragte der Wiesengrab weitere Bauplätze, die dann der Bürgermeister im Gemeinderat durchsetzte. Der Wiesengrab kaufte wieder einen Mercedes, diesmal einen fabrikneuen, das größte Modell, das bis dahin gebaut worden war. Auch der Bürgermeister fuhr nun nicht mehr mit seinem Bulldog zur Kirche und in die Gemeinderatssitzung, sondern mit dem alten Mercedes vom Wiesengrab. Nicht einmal umgespritzt hatte er ihn. Es war noch nicht üblich, von Korruption zu sprechen. Das Wort gab es noch nicht. Es war immer noch Aufbruchstimmung, man sprach von Nachbarschaftshilfe.

 

     
    Ich bin jetzt 17 Jahre alt geworden und habe gerade die 6 . Klasse Gymnasium wiederholt. Ich fühle mich seitdem gefestigt. Der Druck, dem ich das ganze Jahr über ausgesetzt war, der Druck, nicht noch einmal durchfallen zu dürfen, um nicht von der Schule zu fliegen, dieser Druck ist jetzt weg. Und wie ein Wunder kommt es mir vor, dass auch meine Ängste weg sind. Ich habe keine Albträume mehr. Am Tag schaue ich nicht mehr alle paar Minuten grundlos hinter mich. Das Gefühl, dass hinter mir andauernd jemand steht und mich anstarrt, ist verschwunden. Es kommt mir vor, als hätte ich es nie gehabt. Ich kaue auch nicht mehr ständig meine Fingernägel. Die Schnitte, die ich mir mit dem Taschenmesser in die Arme geritzt habe, um später den getrockneten Schorf kauen zu können, die sind alle verheilt. Ich denke viel konzentrierter, ich lasse mich nicht mehr ständig ablenken von grüblerischen Gedanken, die mir die Seele aufgerissen und sich im Kopf quer gestellt haben wie Fischgräten im Hals, so dass ich nie denkend lernen konnte, sondern immer alles auswendig lernen musste, um nicht völlig zu versagen.
    Ich glaube, dass ich anfange, erwachsen zu werden. Ich habe so ein Gefühl, als könnte ich seit einiger Zeit über mich selbst verfügen. Oder soll ich sagen: Über mich selbst bestimmen?
    Mit dem Geräteturnen habe ich aufgehört. Selbst auf dem Barren turne ich nur noch selten. Dafür spiele ich jetzt schon seit zwei Jahren in der Schultheatergruppe mit. Wir spielen abstrakte Stücke von Maximilian Vitus und Ludwig Thoma. Das sind Autoren, die eigentlich niemand kennt. Aber der überschwängliche Ausdruck ihrer knappen Fantasie erhält in seiner buntscheckigen Aneinanderreihung von Verkürzungen eine seltsame Klarheit durch Dichte. Man kriegt als Zuschauer, aber auch als Spieler, einen Eindruck vom Leben an sich, durch all die Verdrehungen und Missdeutungen, die aber als Behauptungen daherkommen und wie tiefe Einblicke und Einsichten gemeint sind. Lebensweisheiten der oberflächlichen Art herausplappernd, vermeiden diese Stücke, allein durch ihren Mangel an Erkenntnis, eine tierisch ernste Weltbetrachtung. So geben sie dem Theater eine Wendung. Sie richten das Augenmerk auf das Allgemeine und banalisieren dabei das Besondere. Aber unfreiwillig. Hier habe ich mich seit zwei Jahren eingerichtet, von einem Klosterbruder entdeckt, ohne dass er mehr will von mir als nur dieses eine Talent: die Begabung, dem reinen Spiel einen Schein zu geben, als wäre er die Wirklichkeit.
    Die Schulferien verbringe ich daheim. Das ist nicht gerade gewinnbringend, aber es stört mich auch nicht weiter. Mir ist es egal, ob ich daheim bin oder nicht. Die Ferien betrachte ich als unvermeidliche Überbrückungszeit. Es spielt keine Rolle, ob es mir da gefällt oder nicht. Viel lieber bin ich natürlich im Internat. Denn da weiß ich, was ich zu tun habe. Zu Hause weiß ich das nicht. Was soll man da tun? Im Winter fährt man Schlittschuh, wenn der See zugefroren ist. Im Sommer badet man. Immer trifft man dieselben Leute von früher, und man erinnert sich auch daran, dass das mal Freunde waren. Aber mit denen habe ich eigentlich nichts mehr zu tun. Die sind mir alle sehr fremd geworden. Sie kommen mir vor wie eine alte Zeit. Sie reden immer noch das Gleiche wie früher, machen immer noch die gleichen abgedroschenen Witze über die Sexualität. Gleichzeitig merke ich, dass sie aber keine Ahnung davon haben. Nicht die geringste.
    Mit meinen Eltern komme ich gut aus. Sie sind zuvorkommend mir gegenüber, weil ich ja nur selten da bin, und ich ertrage ihre Zuwendungen ohne entsprechende Gegenleistung. Ich habe wenig über für sie, außer dass es sie gibt und man sich schon lange kennt. Das hat einen gewissen Gewöhnungseffekt, dem man wehrlos ausgeliefert ist. Wenn mir ihre Nähe zu

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