Mittelreich
Leichnams in die Oberpfalz vermeiden. Drum hab ich mich nach langem Ringen mit mir selbst entschlossen, meine letzten Lebensjahre im Haus der toten Eltern abzuleben. Dort lebt auch noch die Schwester. Die wird sich um mich kümmern und mich mitversorgen.
Nichts konnte ihn mehr umstimmen. Und so packte er seine Sachen zusammen und stieg an einem Montagmorgen in den Bus zur Kreisstadt, um vom dortigen Bahnhof aus mit dem Zug den weiten Weg in die Oberpfalz anzutreten.
Auf der breiten Aufgangstreppe vor dem Seewirtshaus, die den Gast wie eine große Hand bis vor die Eingangstüre hebt und ihn beim Gehen sanft nach unten wieder auf die Straße setzt und den Bedarf nach Wiederkehr in ihm erweckt, auf dieser Treppe hatten sich alle versammelt und sahen zu, wie der Seewirt dem Valentin ein Kuvert zusteckte und dabei feucht schimmernde Augen kriegte. Dann reichten alle, eines nach dem anderen, dem Valentin zum letzten Male mit verschämter Scheu die Hand – denn körperliche Berührung war nur bei endgültigen Anlässen üblich und deshalb ungewohnt –, der Viktor trug ihm seine kleine Tasche aus sackrupfenem Leinen bis an die Bustüre heran und murmelte mit etwas wackeliger Stimme: Einen musste dir jeden Abend genehmigen, einen kleinen, das reicht, dann lebste noch ’n paar Jahre – und dann stieg der Valentin ein, ohne sich noch einmal umzuschauen. Die Zurückbleibenden winkten dem Bus noch eine ganze Weile hinterher – abschiedsschmerzlich die einen, fernwehmütig die anderen – und gingen dann stumm und ein jedes mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, wieder an die Arbeit. Da wusste Viktor, dass auch ihn niemand mehr fortjagen würde.
Einen Abgang wie das Fräulein Zwittau würde er bestimmt nicht zelebrieren, da war er sich gewiss. Und wenn doch was Unvorhergesehenes geschehen sollte? Dann bliebe auch für ihn ein Ausweg, wie ihn das falsche Fräulein nahm. Nur ins Wasser würde er nicht gehen. Das wäre ihm zuwider. Er würde nach der Kreisstadt fahren, mit dem Bus, und würde sich aufs Bahngleis stellen, gleich außerhalb des Ortes, wo von der Hauptstadt her der Zug mit hohem Tempo ein abschüssiges Stück Gleis befährt und an dieser Stelle immer noch ein wenig zulegt. Dort würde er sich aufrecht in den Schotter stellen und mannhaft auf das Ende warten. Diese schien ihm von den ausgedachten Möglichkeiten die berufenste.
Und auch die sauberste?
Da weigerte er sich drüber nachzudenken. Das hätte ihn womöglich abgehalten. Doch war es müßig, sich mit solchen Hirngespinsten zu belasten. Er sah den Selbstmord nur als letzten, äußerst diffizilen Ausweg an. Und das Äußerste trifft selten ein und eher nie. Drum machte er sich darum weiter keinen Kopf.
Viktor hatte sich in diesen einundzwanzig Jahren alles angeeignet, was ihn jetzt im Dorf als integrierten Neger unter Weißen gelten ließ – alles, außer den Dialekt. Er war in Seedorf sichtlich angekommen, blieb aber hörbar fremd. Und um dieses Manko auszugleichen, hatte er mit Fleiß und Akribie begonnen, überlegenes Wissen anzuhäufen. Bald war er der bestinformierte Seedorfer. Postkarten kosteten in dieser Zeit um beinahe die Hälfte weniger als Briefe, und da die Leute noch über wenig Geld verfügten, schrieben sie sich Postkarten. Die Währungsreform hatte das alte Geld vernichtet, und das neue Geld hatte scheinbar alle gleichgemacht: Alle hatten 40 Deutsche Mark bekommen. Nicht mehr und nicht weniger. Die Summe war gut. Eine echte Aufbruchssumme. Aber trotzdem musste gespart werden. Da half alles nichts. Also schrieb man sich Postkarten statt Briefe. Und so kam Viktor an seine Informationen. Fremde Karten liest man nicht!, riefen ihm die Kinder zu, wenn er den Postkasten leerte und auf der Stelle zu lesen anfing. No, ein paar hinter die Löffel kannste haben, antwortete der Viktor dann und verschwand mit dem ganzen Sack voller Briefe und Karten in der Post, um in Ruhe gelassen zu werden beim informellen Lesen. Die Brieftaube stand oben im Hausgang und führte ein gebildetes Gespräch mit irgendeinem Sommergast mit Titel, wie Frau Geheimrat etwa oder so was wie Herr Doktor Ingenieur. Da blieb dem Viktor beinah unbegrenzte Zeit zum Sammeln von privaten Neuigkeiten. Als dann um sechs am Abend die Philomena wieder runterkam, vom Hausgang oben wieder in die Post herunter, weil um diese Zeit der gelbe Wagen vorfuhr, um die Ware abzuholen, da hatte Viktor nicht nur alles abgestempelt und in Postsäcke verpackt, nein, er hatte womöglich ganz
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