Mittelreich
Friedenshelfern überlassen wurde, hatte er zuvor politische Lieder der Zwanzigerjahre gesungen und eine kurze Rede gehalten. Wir reichen weiter das Vermächtnis der Häftlinge von Buchenwald, hatte er ins Mikrofon gerufen: Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg. Weg mit den Raketen! Wir fordern eine friedliche Koexistenz mit den sozialistischen Staaten. Alle Menschen sind gleich, und alle Völker. Die Menschen wollen den Krieg nicht und keine Aufrüstung, das wollen nur die Rüstungskonzerne und ihre Handlanger in Zulieferindustrien und Politik. Wir von der Kommunistischen Partei fordern die Regierung auf, die Stationierung dieser Raketen rückgängig zu machen und kein Geld mehr für Rüstung zur Verfügung zu stellen. Stoppt endlich den Wahnsinn!, rief er so laut, dass die Mikrofone blubberten zum obligaten Klatschen der Genossen. Dann nahm er die Gitarre und sang: Vorwärts und nicht vergessen ... die Solidarität ...
Es sangen mit die Gleichgesinnten, dass es schien, als ob harmonisch Gleichklang in der Masse herrsche. Auch wenn es nur ein paar von hunderttausend waren, vielleicht nicht mehr als tausend, die wohlgesinnt und solidarisch mit ihm sangen, während andere schwiegen oder sprachen oder keine Lust zum Singen spürten oder dazu nicht befähigt waren, weil das unbekannte Lied befremdlich klang, seine Worte keine Nachricht zu enthalten schienen in der Einfachheit, die groß aus ihnen sprach: Für ein paar Minuten hüllte der Gesang der Gleichgesinnten die Masse ein, so dass die Sänger glauben mochten, sie sei aus einem Guss. Aber dieser Eindruck hielt sich nicht.
Bald wurde die Teilnahmslosigkeit der vielen am Gesang der wenigen zu Unruhe, die Gespräche wurden lauter, Rufe wechselten von einem Lager in das andere, Ungleichgesinnte spotteten laut, der harmonische Klang wurde durchdrungen von Disharmonie, wie Schmutz legte sich das Johlen und Kreischen auf den Gesang von Semi und den andern Sängern und mischte sich zu Missklang. Plakate, die schon lang herabgesunken waren, die erlahmten Muskeln aufzuladen, hoben sich ein zweites Mal heraus aus dicht gedrängten Leibern hoch über die gereckten Köpfe und bekräftigten mit waghalsigen Symbolen verschlungene Forderungen auf vielfarbigem Grund:
Undogmatische Linke fordert Verschrottung auch der sowjetischen SS - 20 -Raketen stand auf grünem Untergrund mit gelblich grünem Blümchenmuster.
Die imperialistischen Raketen der USA bedrohen den Frieden in der Welt, die sowjetischen erhalten ihn stand auf einem anderen Plakat, das rot grundiert, am Rande rosarot getönt war.
Christen für den Frieden und gegen Kommunismus – ohne Raketen war quer auf unzählige lilafarbene Halstücher ge druckt, geziert von kleinen weißen Vögeln, die mit ausgespannten Flügeln, Tauben ähnlich, um die Hälse ihrer TrägerInnen flatterten.
Die Bullen von heute sind das Gulasch von morgen behauptete ein anderes Plakat, tief rot im Inneren und schwarz durchfurcht vom Rande her mit spitzen Zacken und rotgelb stachelnden Furunkeln; freimütig gab es Auskunft über seine Herkunft: Die Autonomen vom Schwarzen Block .
Im Umkreis dieser jungen Leute entbrannte ein heftiger Tumult. Viel Gleichgesinnte mit den weißen Tauben auf den lila Tüchern, die um ihre Hälse wie die Würgeengel kreisten, beschuldigten die schwarz Vermummten der Störung und Beschmutzung einer friedlichen Versammlung reiner Herzen. Die andern, mit den roten Nelken in den ausgefransten Kragenlöchern, schimpften, dass solche Pöbeleien bei diesem ersten, eindrucksvollen Aufeinandertreffen von verschiednen Strömungen des Widerstandes, nicht nur gegen die Atomraketen, doch nur den Keim der Spaltung weiter nährten. Auch Polizisten würden schließlich Opfer eines atomaren Krieges werden, vor dem dann keine Grenze und auch keine soziale und gesellschaftliche Stellung mehr die Menschen schützen werde.
Wer redet denn von Polizei, maulte einer hinter dem Plakat, wir reden doch von Rindfleisch. Rindfleisch, rief er, Rindfleisch für die Welt! Gulasch, rief er. Gulasch von den Bullen und für alle! Für die ganze Welt, vor allem für die Dritte!
Eine Farbleinwand aus dünnem Leder, straff auf ein flaches Lattenviereck aufgetackert und faltenlos hineingespannt, war bemalt mit einem Priap, der statt eines Riesenpenis den Riesensprengkopf einer Pershing- II -Rakete in den ungeschützten Erdball stieß, wobei der kleine Gott, vom Sternenbanner eingehüllt, verzweifelt seine Last ins Zielloch zu bugsieren
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