Mittelreich
Augenschein und Erinnerungsarbeit sorgfältig decodierten Menschen auch tatsächlich vor sich zu haben, um dann, ganz allmählich, mit langen, höchst unterhaltsamen und aufschlussreichen Erzählungen von früher zu beginnen, die sie mit monotoner Stimme langsam sprechend vortrug, fast nicht endend und immer gestützt von einem starren, ernsten Blick, dem sich nie ein Lächeln, geschweige denn gar ein Lachen entrang, selbst dann nicht, wenn die Erzählung, was durchaus vorkam, von komischen Reminiszenzen eingefärbt war, die ihr nicht nur unfreiwillig passierten, sondern, wie es ihren Zuhörern immer wieder schien, oft höchst raffiniert von ihr gesetzt waren. Und auch da, wo das Komische einer Erzählung eindeutig der vom Einschlag beeinträchtigten Wahrnehmungs- und Mitteilungsfähigkeit geschuldet sein musste, blieb beim Zuhörer immer wieder eine gewisse Unsicherheit im Schwange, ob die Kranke sich nicht doch der Dimension des von ihr Gesagten bewusst war. Oft war es nur eine fast unmerkliche körperliche Bewegung oder ein kurzer Nachsatz, der die Zuhörer in ihrem schon getroffenen Urteil wieder wanken machte und darüber rätseln ließ, ob die Erzählerin damit womöglich doch die Anerkennung eines klaren Bewusstseinszustands für sich reklamieren wollte.
Diese fast schon provokante Unverbindlichkeit im Ausdrucksgebaren der Kranken führte dazu, dass die einen sich für den verschrobenen Witz und die seltsame Erhabenheit ihres Vortrags begeisterten und darin ein Zeichen für eine baldige Genesung sehen wollten, während die anderen, zutiefst betroffen und voller Mitgefühl für sie angesichts des schrecklichen Zustands, in den die Seewirtin vom Blitzschlag versetzt worden war, kaum dass sie das Krankenzimmer verlassen hatten, resigniert alle Hoffnung fahrenließen. Und nur Semi, der im zerstörten Zustand der Mutter seinen eigenen gespiegelt und mit einer gewissen Genugtuung eine übergeordnete Gerechtigkeit am Walten sah – denn er hatte seiner Mutter nie verziehen, dass sie ihn nicht vor der Unterbrin gung im Internat bewahrt hatte –, nur Semi eignete die Überlegenheit, die seltsame Persönlichkeitsveränderung der kranken Mutter kalt zu studieren, ohne dabei in irgendein Gefühl der Freude oder gar des Mitleids zu verfallen.
Fast jeden Tag, wenn er vom Gesangsunterricht nach Hause kam, ging er nach oben an ihr Krankenbett, das in besseren Jahren Ehebett und zwischendurch Entbindungs- und Wochenbett gewesen war, nahm sich einen Stuhl, setzte sich davor und besah sie wortlos. Das hielt er oft bis zu einer Stunde durch. Ohne jede Regung. Und auch die Seewirtin schien dieser Besichtigung empfindungslos standzuhalten und wirkte weder angetan noch abgestoßen davon. Sie besahen sich gegenseitig und sagten nichts.
Oft schlug die Seewirtin dann, nach einer lange Zeit des Anstarrens und Anschweigens, mit einer unerwarteten und fast heftigen Bewegung ihre Zudecke beiseite, so dass ihr ausgemergelter Leib mit den nur mehr knöchern wirkenden Gliedmaßen zum Vorschein kam, eingehüllt von einem weißen Nachthemd, das immer schon bis über die Hüften nach oben gerutscht war, und präsentierte sich dieserart in schamloser Nacktheit ihrem Sohn – sie, der körperliches Schamgefühl zu ihren gesunden Lebzeiten auf fast schon manische Art eigen war, die laut aufschrie, wenn außer ihrem Mann ein anderes Mitglied der Familie jenes Zimmer betrat, in dem sie ihre Arbeitskleidung mit den Hauskleidern wechselte. Auf Semi aber, nachdem sie die Decke zurückgeschlagen hatte, starrte sie mit geradezu herausfordernd unbekümmertem Blick und sagte dann mit monotoner Stimme und reglosem Gesicht den Satz: Setz mich aufs Töpfchen, du Tröpfchen. – Sie war wieder Kind geworden und spielte damit, wissend, dass ihr Kind unfähig war, dieses Spiel mitzuspielen.
Semi jedoch, der die lustvolle Gratwanderung seiner Mutter zwischen gelegentlicher Realitätswahrnehmung und an schließender schamloser Hingabe an den Wahnsinn nach kurzer Zeit durchschaut hatte und nur mehr darauf wartete, dass dieses Spiel begann, der dafür den Besuch bei der Mutter und die lange Zeit des Anstarrens kalkuliert hatte, Semi, gefühllos gemacht und geworden gegen alles, was gutmenschlich von außen her an ihn herantrat, geformt dazu in der Menschenum- und -unformschmiede des Klosters, geschmiedet auf hartem Amboss von klerikalen Schmieden des Fleisches und der Begierde – Semi stand dann jedes Mal auf und sagte: Vielleicht beim nächsten Mal,
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