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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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Diktatur des Proletariats , der in Zirkeln, die er schon seit Längerem besuchte, vorgestellt und bis ins Detail hinein behandelt worden war, den hatte er verstanden, den konnte er auch selber denken und in seiner Logik, wenn es nottat, auch mal konjugieren. Und gerade die Distanz zum bürgerlichen Wertemaß, die der Begriff umschrieb, und die Unvermeidbarkeit von Zwangsmaßnahmen, die vonnöten seien, um den genauso zwangscharakterhaften bürgerlichen Klassendünkel mit seiner ganzen Überheblichkeit und Ausgrenzungsphobie aus der Gesellschaft zu verdammen, waren für ihn in dem Begriff der »Diktatur des Proletariats« so klar vorhanden wie der Grund von einem Gletschersee. So formulierte es zumindest der Dozent des Zirkels pfeilgenau – was wiederum ein Sprachbild Semis war. Und jetzt behauptet ausgerechnet einer von den besten Köpfen unter den Genossen, dass diese klar gezogne Grenze zwischen Proletarier und Bürger aufzuweichen sei.
    Das war zumindest ungewöhnlich. Womöglich aber war das ohne Selbstbetrug auch gar nicht mehr zu leisten. Man solle sich, so kam es Semi vor, mit dem zurzeit noch nicht lösbaren Kräfteungleichverhältnis – vermutlich war es so von oben her gewünscht – gewissermaßen arrangieren. Von jetzt an würde er sich stumm vertragen müssen, denn nur so ließ sich das Gemurmel des Parteivorsitzers deuten, mit, was gerade noch zu meistern wäre, Chaoten samt ihren disziplinlos unvorhersehbaren Macken auf der einen Seite, aber auch – das konnte er nicht ohne Grausen denken – mit den lila Tücherträgern auf der andern, die ihn, mit ihren sanften und verlogenen Gesängen von Frieden und Gerechtigkeit und ihrem verklemmten Händchenhalter-Lichterkettenkram an die gerade so sanft autoritären Pfaffenrituale im Klosterknast erinnerten: Reichen wir uns die Hände! Dann ist es bis zum Körper nicht mehr weit.
    Allein schon das dran Denken tastete wie eine fette, schweißig nasse Hand seinen ganzen Körper ab, verdünnte seine Atemluft, drang wie rußig schwarzer Rauch hinein in die Verzweigungen und Ästelungen seiner Bronchien, bis er würgend, kotzend, röchelnd und nach Luft in diesem Weihrauch ringend durch die Menge hetzte, auf und davon, flüchtend vor dem Jetzt genauso wie vorm Früher.
     

     
    Sieben Tage nach der Flucht des Semi aus der großen Friedensversammlung gegen die geplante Aufstellung neuer amerikanischer Atomraketen im Land, die gleichzeitig auch zu seiner endgültigen Flucht aus der kommunistischen Partei wurde, weil die, wie er sich aggressiv und polemisch ausdrückte, aus Angst vor einer weiteren Marginalisierung in der Gesellschaft nun allmählich, aber unaufhaltsam ihre Kampffarbe vom einst radikalrevolutionären Rot in ein anpassleri sches klerikalfaschistisches Kardinalsrot umfärben würde, fand die Zugehpflegerin Veronika vom Orden der Barmherzigen Schwestern bei ihrem täglichen Pflegebesuch die Seewirtin tot in ihrem Bett liegend auf. Der sofort herbeigerufene Arzt stellte fest, dass sie etwa zehn bis zwölf Stunden zuvor, also zwischen acht und zehn Uhr abends, friedlich entschlafen sei. Fremdeinwirkung oder eine andere Unregelmäßigkeit beim Hinscheiden der Seewirtin seien ausgeschlossen. Aufgrund ihrer einjährigen, schweren Krankheit sei ihr Tod logisch und ein gnädiges Ende ihres Leids.
     
    Ein knappes halbes Jahr zuvor war die Seewirtin bei dem Bemühen, die im Frühjahr geborenen Kälber noch rechtzeitig vor einem aufziehenden Gewitter von der Weide zu holen, von einem Blitzschlag getroffen worden und seitdem teilweise gelähmt und pflegebedürftig und, auf eine entsetzliche oder aber auch interessante Weise – das sei dem jeweiligen Urteil jener überlassen, die der Seewirtin in diesem halben Jahr bis zu ihrem Tod noch als Besucher am Krankenbett nahe waren – wesensverändert oder verhaltensgestört.
    Die Seewirtin hatte, erkennbar erst nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen und der häuslichen Pflege übergeben worden war, mit dem Einschlag ihr Kurzzeitgedächtnis – dazu da, den Mensch durch die Monotonie der alltäglichen Überlebensrituale zu führen – fast vollständig verloren, hatte sich dafür aber eine höchst interessante Vervollkommnung ihres Langzeitgedächtnisses eingehandelt – wenn man so will. Jeden Besucher und jede Besucherin studierte sie anfangs wortlos mit einem langen, oft Minuten anhaltenden, forschenden Blick voller Misstrauen, so als wollte sie sichergehen, den von ihr beim Eintritt ins Zimmer sofort durch

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