Mittelreich
Aufmerksamkeit. Aber das lassen Sie uns durchsprechen, wenn Sie sich wirklich entschieden haben. Können Sie denn aus Ihrer Landwirtschaft und dem Gasthaus einfach so weg?
Da hat der junge Seewirt erst mal herumgedruckst. Der Satz von seinem Vater ist ihm durch den Kopf gegangen, dass er sich keine Flausen wachsen lassen soll und die Arbeit auf dem Hof auf keinen Fall darunter leiden dürfe. – Ich werde das mit meinen Eltern besprechen, hat er in gedrechseltem Hochdeutsch geantwortet. Aber eigentlich müsste das schon möglich sein. Für das Anwesen ist ja mein Bruder zuständig. Der ist der Hoferbe. Dann muss ich sowieso was anderes suchen.
Sein Bruder! Ja! Der hatte zwar damals schon seinen Kopfschuss weg, aber eingestanden hatte man es sich noch immer nicht so richtig, in der Familie des Seewirts zumindest noch nicht. Deshalb war er immer noch der Hoferbe. Und deshalb konnte der Pankraz immer noch von einer Karriere als Sänger träumen.
Der Vater hat ihm den Unterricht bei der Krauss nach langem Hin und Her dann doch genehmigt. Viel Geld hat sie nicht verlangt dafür, hat aber regelmäßig frische Lebensmittel aus der Landwirtschaft zusätzlich noch bekommen und an Weihnachten einen lebendfrischen Karpfen. Auch den Schwestern hat sie einige Gesangsstunden gegeben, besser gesagt: Sie hat ihnen ein paar technische Tricks verraten, damit die hohe Fistelstimme der Philomena nicht mehr ganz so fistelig und der Alt der Hertha weniger baritonal, dafür etwas fraulicher daherkamen. Dem Kirchenchor hat das insgesamt zu einem runderen Klang verholfen, und, als die Geisteskrankheit beim älteren Bruder dann endgültig ausgebrochen war, zu einem guten Chorleiter, den der Pankraz abgab, nachdem sich seine Träume zerschlagen hatten.
Theresa war inzwischen fünfzehn Jahre alt geworden und arbeitete bereits so zuverlässig wie ihre noch auf dem Hof lebenden älteren Schwestern. Die Maria, die älteste, hatte ein paar Jahre zuvor einen Bauern aus dem Nachbardorf geheiratet. Sie war zwar bei der Hochzeit erst achtzehn gewesen und hätte sich ein paar ungebundene Jahre noch gerne gegönnt, aber die Auswahl an Männern war immer noch gering. Noch wirkte die Dezimierung nach, mit der der Krieg das Gleichgewicht zwischen Männern und Frauen durcheinandergebracht hatte. Es war nicht sicher, später eine gute Partie zu machen. Der Mann war Erbe eines großen Hofes, und vielleicht liebte sie ihn sogar. Was soll’s? Jedenfalls war der Heiratsmarkt auf dem Lothof in Eichenkam eröffnet. Das Haus war in den kommenden Jahren stark frequentiert. An den Wochenenden kamen die Brautwerber teilweise aus entlegenen Gegenden mit ihren Pferdechaisen daher und wurden auf dem Hofgelände bewirtet. Die Töchter hatten ihre bäuerliche Schüchternheit abgelegt, als sie begriffen hatten, wie begehrt sie waren, und behielten davon nur noch einen schicklichen Rest als Dekoration. Mittendrin stand der Alte und ließ sich aus den fernen Ortschaften das Neueste berichten. Auch aus den umliegenden Dörfern kamen die einschlägig Absichtsvollen und lernten so ihre Kollegen aus den fremden Gemeinden kennen. Neue Freundschaften wurden geschlossen, und neue Antipathien entwickelten sich, von Männerstolz entfachte Konkurrenz drohte manchmal ebenso auszubrechen, wie sie der alte Lot regelmäßig im Keim zu ersticken wusste, und so kam es, dass seine sechs Töchter im Lauf der Jahre alle unter die Haube kamen und dass durch den Rummel, der auf dem Lothof eine Zeit lang herrschte, höchst seltene Kontakte über die bis dahin geltenden, natürlichen Reisebegrenzungen durch den See im Westen und den großen Fluss im Osten hinaus entstanden und die einheimischen Jungbauern ebenfalls zu ausgedehnten Reisen auf der Suche nach einer Braut aufgestachelt wurden. Ja, ja. Und dadurch kam auch das jahrhundertealte Problem der bäuerlichen Inzucht nach und nach zum Erliegen.
Wann der junge Seewirt, bei dessen älterem Bruder sich die Symptome einer Krankheit des Geistes immer mehr zeigten, zum ersten Mal zwecks Brautschau in Eichenkam auftauchte, ist nicht überliefert, aber es wird wohl so zu Beginn der Dreißigerjahre gewesen sein, als das Land sich vom Krieg wieder gut erholt hatte, in sich zwar zerstritten war, aber schwarze und noch schwärzere Wolken am Horizont noch nicht gedeutet werden konnten. Zumindest nicht von den Augen und den Instinkten der in politischen Dingen meist unbeholfenen Landbevölkerung. Es war also kein Zufall, dass gerade bei
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