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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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den Bauern, als sie das Lied von Blut und Boden anstimmten, die schwarzbraunen Haselnussliedsänger einen weit geöffneten Hörkanal fanden.
    Beim Seewirt hatte sich mittlerweile auf den immer mehr verwaisenden Platz des ältesten Sohnes die älteste Tochter Philomena gedrängt. Mit Erfolg. Und so geschah es, dass der christlich fundierte patriarchale Geist, der dieses Haus beseelte, statt einer möglichen Mäßigung eine Verschärfung erfuhr.
     

     
    Anfang 1933 war Philomena, älteste Tochter des Seewirts in Seedorf und Leiterin einer Filiale der Reichspost, die in einem kleinen Nebengebäude des Seewirtshauses noch in monarchischer Zeit eingerichtet worden war, um die 40 Jahre alt und ihre und die Weimarer Zeit zu Ende.
    Diese Feststellung muss gewagt werden, denn wenn es stimmt, dass unser zentraler und alle anderen dominierender Lebenstrieb, aus dem ein möglicher Lebenssinn sich vielleicht erst ergibt, der ist, das eigene Leben zu schützen und die Art zu erhalten, dann war jener Lebenstrieb, der die Art erhalten macht, bei Philomena ins Klimakterium übergegangen, ohne dass sie ihn mit Sinn gefüllt hatte. Es ist daher anzunehmen, dass der Wechsel von ihr statt als Einbruch als Aufbruch, statt eines Klimakteriums als Klimax empfunden wurde, herbeigesehnt als neuer Sinn gegenüber dem unerfüllt gebliebenen alten. Philomena stand tief in ihrer Zeit, und die Zeit stand nahe bei ihren Menschen. Als dem Schoß der Zeit der neue Sinn entsprang, war das Kindbett schon bereitet, es musste nur noch das Kopfkissen aufgeschüttelt werden.
    Philomena, der als Postangestellte im Laufe der Jahre von der Allgemeinheit der Spitzname Brieftaube zugefügt worden war, brachte an der Eingangstür zum Seewirtshaus ein Schild an, auf dem zu lesen stand: Wir sind ein christliches Haus. Juden sind hier unerwünscht. Am zwiefachen Fahnen träger, der an die Poststation hingeschraubt war und an dem seit dem Kriegsende neben der Fahne der Reichspost auch der Reichsadler wehte, wehte jetzt an Stelle des Adlers die Hakenkreuzfahne. Aber der Adler war nicht davongeflogen. Er hatte sich nur in die Herzen eingenistet.
    Noch wurde der politische Wechsel im Seewirtshaus sowohl in den öffentlichen als auch in den Privaträumen heftig diskutiert. Aber auch hier, wie überall, senkte sich die von einem urtiefen Gerechtigkeitssinn genährte und nach Satisfaktion lechzende Erinnerung an den letzten Krieg wie ein angeborener Reflex über den Zweifel und warf seine schwarzen Schatten über ihn, bis er vollständig verschwunden war. Als er nach zwölf Jahren wieder geweckt wurde, war er eine Tautologie geworden: Fürderhin zweifelte der Zweifel an sich selber.
    Die Zeit wurde jetzt wirklich besser. Die Massenarbeitslosigkeit, die auf allem gelastet hatte, nicht nur auf den Arbeitslosen, sondern auf der ganzen Wirtschaft und deshalb auch auf der Gast- und auf der Landwirtschaft, verschwand nach und nach. Immer mehr Leute, auch die einfacheren, konnten sich Ausflüge an den See leisten, und die landwirtschaftlichen Produkte erzielten wieder so stabile Preise, dass endlich eine Mähmaschine gekauft wurde. Die Brieftaube hatte sich am Anfang heftig dagegen gesträubt. Da würden ja die Pferde noch mehr geschunden werden, hatte sie gesagt, wir haben doch genug Knechte, die alle gut mit der Sense umgehen können. Was sollen denn die dann machen?
    Sie war Tierliebhaberin und Mitglied in Tier- und Vogelschutzverein. Täglich ging sie in den Stall und gab den Pferden eine Scheibe Brot zu naschen oder ein Stück Würfelzucker. Den Zucker musste sie den Pferden heimlich geben, wenn es niemand sah. Ihr Vater, der Seewirt, war trotz ihres Aufstiegs im Familienverbund immer noch der unumschränkte Herr im Haus und hatte das Den-Pferden-Zucker- Geben, das gerade bei den Kindern und den Sommergästen sehr beliebt war, streng verboten, weil davon die Pferde angeblich erblinden konnten. Und für die Brieftaube waren neben dem Herrn Pfarrer und dem Herrn Lehrer ihr Vater und der Herrgott die einzigen Autoritäten, die sie über sich duldete. Auch dem neuen Staat, geradeso wie dem vorangegangenen, stand sie keineswegs devot gegenüber. Beide betrachtete sie als Exekutoren des Kaiserreichs und damit der Monarchie, der immer noch ihre ganze Sympathie galt. Sie befand sich nur in einigen Punkten – womöglich sogar nur in einem – in Einklang mit dem neuen Staat: in der Abneigung gegen die Juden, die den Herrgott ans Kreuz geschlagen hatten. Und nur ihre Tierliebe

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