Mittelreich
jedes dieser Mädchen mindestens ein Instrument konnte, nämlich die Blockflöte, manche aber sogar die Geige oder das Klavier. Und jene, die aus Familien kamen, die erst vor kurzem in den Wohlstand aufgestiegen und noch nicht im Knigge geschult waren und deshalb die Tischmanieren noch nicht gänzlich und ein Instrument schon überhaupt noch nicht beherrschten, die durften das Manko mit ihrer Stimme ausgleichen. Und da waren die Töchter des Seewirts nicht die Unbegabtesten. Die eine, die dickere, die Hertha, die hatte einen tiefen Alt, und die andere, die magere, die Philomena, hatte einen hohen Sopran. Und damit sangen sie sich im Schulchor in die jeweiligen Solopartien hinein, und später, als sie wieder daheim waren und nicht wussten, was anfangen mit der erworbenen Bildung, wenn nicht gerade zufällig mal ein Engländer oder ein Franzose vorbeikam, dem man mit der erlernten Fremdsprache helfen konnte, sangen sie im Kirchenchor, ebenfalls Solo. Und das klang so schön und lieblich, so schön von fern und nah ..., vor allem von nah, in den eigenen Ohren. Und heimliche Sehnsüchte wuchsen – und das Wissen um ihre Unerfüllbarkeit. Und dahinein platzte der Bruder mit dem Angebot der Kammersängerin – und riss nieder die Resignation und fachte eine Hoffnung an. Zweimal waren die drei Geschwister schon von Sommergästen in die Oper eingeladen worden. Dieses Erlebnis hatten sie so behutsam und diebstahlsicher eingespeichert in ihre Erinnerung wie eine magere Getreideernte in den Getreidekasten. Sie bestürmten den Bruder, er möge diese Gelegenheit doch bitte ja nicht fahrenlassen!! ... und vielleicht könnte sich ja daraus auch für die Schwestern eine Gelegenheit ergeben. Was für eine Gelegenheit?, fragte der Bruder. Na ja, sagten sie, der Kammersängerin auch unsere Stimmen vorzuführen. – Wie Kinder den Christbaum, so umstanden die beiden älteren Schwestern ihren jüngeren Bruder. Und wie von älteren Schwestern der jüngere Bruder, so wurde er an normalen Tagen von ihnen geschurigelt.
Eines Tages im Herbst, als das Haus wieder leer war und der graue November wie das Totenland auf ihn wirkte und sich eine graue Öde in seiner Brust ausbreitete und graue Gedanken durch seinen Kopf krochen, klopfte er bei der ehemaligen Kammersängerin an. Ah, da sind Sie ja doch noch, ruft sie, als sie die Tür öffnet, und ich habe schon gedacht, ich hätte Sie beleidigt an Ostern, als ich Sie einen Batzisten genannt habe. Aber so schnell lässt sich so ein kräftiger Bursche wie Sie einer sind nicht unterkriegen, was? – Und schließt damit die Tür hinter ihm wieder zu. – Ich hab Ihnen im Sommer ein paar Mal von der Bank oben am Kalvarienberg aus zugeguckt, wie Sie mit nacktem Oberkörper diese schweren Heuhaufen auf den Wagen gestemmt haben. Donnerwetter! So eine Kraft wie Sie haben! Sie haben ja wunderbare Muskeln! Da knickt man natürlich nicht so schnell ein. Kommen Sie! Setzen Sie sich da auf den Stuhl. Ich mach uns erst mal einen kräftigen Kaffee. Bier haben Sie ja zu Hause genug. Brav setzt er sich auf den angebotenen Stuhl, der Pankraz, und wartet neugierig drauf, wie’s jetzt weitergehen wird. Nach ein paar Minuten kommt die Kammersängerin zurück. Ein Tablett trägt sie in den Händen, die Kaffeeutensilien drauf, samt einem Sandkuchen. Dann trinken sie den Kaffee und essen Kuchen, und er schaut auf ihre vollen und schön geschwungenen Lippen, während sie redet, und sieht dabei aber auch die Falten, die sich überall schon gleichmäßig auf der Gesichtshaut verteilt haben, lauter kleine Falten in großen Mengen, und die machen das Gesicht halt schon ein wenig alt, denkt er. Und so wie im Gesicht wird’s dann wohl überall ausschauen!, denkt er. Und die Kammersängerin erzählt ihm von ihrer Karriere und vom Glanz, der um sie herum war. Große Städtenamen nennt sie: Paris und Mailand, London, und sogar New York kommt vor. Und bald hat der Pankraz die Gedanken an ihren faltigen Körper vergessen und stellt sich jetzt die Welt vor, die sie in ihm wachruft mit ihrer Beschreibung von der eignen, glanzvollen Vergangenheit und von der Begabung, die vielleicht in ihm schlummert und auf die sie jetzt zu reden kommt. – Und deshalb sind Sie ja da, sagt die Krauss, und nicht, weil Sie ein Mann sind und ich eine Frau bin. Denn dafür stehen wir leider altersmäßig ein wenig zu weit voneinander entfernt. Also lassen Sie uns singen, sagt sie, und im Gesang das Begehren, das unmögliche, vergessen.
Dem Pankraz
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