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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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und nach Widerstand und Ängstlichkeit bei ihr zum Erlahmen. Als seine Hände allmählich von Kopf und Schultern nach unten wanderten, tastend wie suchend, Brust, Warzen und Nabel fanden und endlich das Geschlecht, Ausgang des Mörders ins Leben, deren ihres zu beenden er geboren war, und er sagte: Heut, Mutter, heut komm ich zurück! – da, schließlich, gab sie nach.
    Er lag auf ihr, eindringlich, nicht eingedrungen – das ödipale Geheimnis hatte ihn immer abgestoßen, seit er im Griechischen darauf gestoßen war, denn das Griechische war humanistisch, und humanistisch war das Kloster, also verweigerte er sich und ihr das Naheliegende –, und küsste ihren Mund so lang, bis ihr Atem versiegt war. Danach gab er sie frei. Das griechischtragische Wort ist tödlichfaktisch, murmelte er, als er von der Toten stieg, und: Ach Hölderlin!, als er den Raum verließ.
     
    Als Semi anderntags vor die Haustür trat, um die Frische des neuen Tags zu atmen, aber die Nachricht von der Entdeckung der Toten durch Schwester Veronika noch nicht bis zu den Hausbewohnern durchgedrungen war, saß Viktor auf dem Betonsockel vor dem Schlachthaus neben der Remise und lauschte in sich hinein. Semi, der auf kein Gespräch aus war, versuchte vorbeizugehen, ohne von ihm Notiz zu nehmen. Er erkannte eine aufdringliche Problembereitschaft im Gesicht des alten Mannes und spürte nicht die geringste Lust, sich jetzt in irgendeine fremde Komplikation hineinziehen zu lassen. Als Viktor ihn aber ansprach und sofort Semis Mutter ins Spiel brachte, blieb er doch zögerlich stehen und hörte in Lauerstellung und mit gesenktem Kopf zu.
    Weißte, sagte Viktor zu Semi, ich hab immer gedacht, deine Mutter, die überleb ich nie. Ich werd wohl müssen vor ihr sterben. So rüstig wie die immer noch war und so energisch! Die wird bestimmt viel älter werden als ich. Nu sieht’s aber nich mehr so aus.
    Was willst du mir jetzt eigentlich sagen, fragte Semi, übertrieben aggressiv.
    No, sie ist gelähmt! Ein Krüppel! Was will sie da noch? Da kann sie nicht mehr so, wie sie vielleicht noch gerne würde mögen. Das war laut gesagt. Fast schon geschimpft. Aber Vik tors Erregung galt nicht Semis Mutter. Sie galt dem ungewissen Schicksal, das alle bedroht.
    Semi murmelte etwas vor sich hin. Was sollte er sagen? Offensichtlich hatte noch niemand den Alten vom Tod der Seewirtin informiert. Und er betrachtete es nicht als seine Aufgabe, das zu übernehmen.
    Wünschen tu ich ihr das nicht, redete Viktor weiter. Sie hat mich immer gut behandelt, deine Mutter. Ne ne. Wünschen tu ich ihr das nicht! Aber es wird wohl so kommen. Sieht nicht gut aus für sie.
    Semi stand unschlüssig da. Ich weiß immer noch nicht, auf was du hinauswillst, sagte er.
    Auf gar nischt will ich hinaus. Ich möchte nur sagen, dass ich so ein Pflegefall nicht werden möchte. Deine Mutter ist ja nun versorgt von ihrer Familie. Aber ich wär unter fremden Leuten. Da zeigt man sich nicht gerne so intim. Man hätte da doch Hemmungen. Das möcht man nicht erleben.
    Semi sah prüfend aus Augenwinkeln auf ihn. Es schien doch alles eher harmlos zu sein.
    Weißte, redete Viktor weiter, manchmal graust es einem ja schon vor den eigenen Körperausscheidungen. Aber die Vorstellung, dass ich da die Berührung von einem anderen, einem fremden Menschen würde aushalten müssen, der sich vor mir könnte ekeln, die ist unerträglich. Wenn du mal begonnen hast, an so was zu denken, kannste nicht mehr arglos alt werden.
    Semi sah, wie Viktors Finger zitterten, als er ein Stück Brot zerkleinerte und es den Spatzen hinwarf. Er sah Tränen in den Augen des alten Mannes. Er sah eine große innere Erregung, der er ausgesetzt zu sein schien. Semi schätzte genussvoll ab, ob hier Mitleid mit einem anderen Menschen am Werk war oder ob es sich bloß um blankes Selbstmitleid handelte. Er kam zu dem Schluss, dass es beides war: Das Mitgefühl mit der von einem Blitz zerstörten Seewirtin mischte sich mit dem Vorstellungsvermögen von einem eigenen Siechtum. Viktor schien Semis Mutter nicht nur geschätzt, sondern sogar gemocht zu haben. Das brachte Semi von einer Sekunde zur anderen heftig auf gegen den zittrigen Alten. Er spürte eine unbändige Wut aufsteigen und fürchtete sehr, ihr nachgeben zu müssen. Deshalb ging er unvermittelt wortlos weg.
    No, wer weiß, rief Viktor, der diese Reaktion von Semi falsch bewertete, ihm nach, vielleicht schafft sie es ja doch.
     

     
    Semi findet einen von ihm selbst geschriebenen

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