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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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verabscheuungswürdige Mutter, vielleicht beim nächsten Mal. Und ging. Und die Mutter, zum Abschluss des Spiels, erbrach und ergoss auf der Stelle ihre menschlichen Ausscheidungen ins frisch bezogene Bett, zog wieder die Zudecke über ihr markiges Knochengestell und wälzte und kuschelte sich mit Hingabe darin.
    Am andern Tag kam die Pflegeschwester wieder, tat stoisch ihren Dienst, ausreichend abgebrüht vom abgebrühten Tun.
     
    Auch am frühen Abend ihres Todes trat Semi leise in das Zimmer seiner kranken Mutter ein und fand sie konzentriert im Rollstuhl vor dem Fenster sitzend und, wie er glaubte, dumpf dem Untergang der Sonne huldigend. Als er aber näher kam, sah er, dass sie eine Tageszeitung aufgeschlagen in Händen hielt und offensichtlich auch mit Interesse darin las.
    Sie ist wieder gesund, dachte er – und diesen Gedanken erfuhr er wie einen harten Schlag auf den Kopf. Er tat ein paar ungleichgewichtige Schritte weg vom Rollstuhl, in dem drin die Mutter seinen Eintritt ins Zimmer noch nicht bemerkt hatte, und presste heftig beide Handballen gegen seine Schläfen. Währenddessen überlegte er fieberhaft, was geschehen musste.
    Den Gedanken, dass die Mutter wieder gesund würde, während er seiner irreversiblen seelischen Zerstörung ein un absehbares Leben lang ausgesetzt bleiben würde, ertrug er nicht.
    Welch eine Überheblichkeit der Natur, dachte er, welch eine grelle Arroganz der Vorsehung und des Schicksals, dass ihm zuteilwürde, was ihr erspart bliebe! Ihr, die ihn zuerst sinnlos geboren und danach nicht verteidigt hatte und widerstandslos ziehen ließ, als Standesdünkel und Traditionalismus des Elternhauses ihn den Seelenhenkern auslieferten, und der gerade deshalb ums Verrecken überleben musste. Nur wenn er am Leben blieb, den vielfältigen Verlockungen, sich selbst töten zu können, nicht nachgab, würde seine Existenz eine fürchterliche Anklage gegen das menschliche Leben überhaupt sein. Diesen Auftrag musste er erfüllen, ob er wollte oder nicht. Es ging nicht mehr nur um ihn. Es ging jetzt um die Lesart des Menschen.
    Die Mutter hatte ihn geboren. Seine Einwilligung wurde nicht erfragt. Die Mutter konnte ihn nicht schützen vor seiner Zerstörung durch andere. Also war sein Selbstzerwürfnis auch nicht sein Problem. Es war das Problem seiner Gebärerin. Es musste ihres sein! Anders konnte er sich nicht mehr denken, und auch sie nicht. An sie musste er es zurückgeben, um weiter existieren zu können.
    Wofür?
    Das wusste er nicht. Und das spielte in dieser Überlegung, der er sich wohl nie mehr würde entziehen können, auch keine Rolle mehr. Diese Überlegung aber war überlebenswichtig für ihn und sein zukünftiges Leben: dass er darüber verfügen konnte – und nur er –, wann es zu beenden sei und warum keineswegs vorher.
     
    Als sie ein unterdrücktes Stöhnen hinter sich wahrnahm und sich langsam nach ihm umdrehte, mit diesem starren, aus weit aufgerissenen Augen stechenden Blick, dem er schon von Beginn ihrer Krankheit an, weil er ihn nicht ertrug, mit flackerndem eigenem Blick ausweichend zu begegnen versuchte, trat er sofort an sie heran und entflocht mit gespielter Zärtlichkeit ihren Fingern die Zeitung, ohne in seiner Panik zu merken, dass sie diese die ganze Zeit über falsch herum gehalten hatte, nämlich auf den Kopf gedreht, und daher nicht gelesen haben konnte und also seine ihn plagenden Gedanken von ihrer möglichen Gesundung bodenlos und überflüssig gedacht waren. Stattdessen beugte er sich, mit selbstgerechtem Rechtsempfinden voller unerkannten Unrechts ausgestattet, nah an ihr linkes Ohr heran und flüsterte: Mutter! Mutter! Das Spiel beginnt! Das Spiel!, und schob den Rollstuhl hin ans Bett und hob sie hoch und dann hinein mit ihrem blütenweißen Kleid über ihrer kalkweißen knöchernen Nacktheit – und es begann wieder, was immer begonnen hatte bei seinen Besuchen seit dem Tag des Unglücks.
    Als sie nach einer Stunde des gegenseitigen Anstarrens wie gehabt die Decke zurückschlug mit den Worten: Setz mich aufs Töpfchen, du Tröpfchen, zog er sich aus bis auf seine komplette Nacktheit und legte sich zu ihr ins Bett. Sie, irritiert von dieser Abweichung vom geübten Ritual, streckte Arme und Beine von sich und schaute angstvoll auf ihn, was käme.
    Vorsichtig ergriff er ihren Kopf mit beiden Händen, streichelte Haar und Schultern mit großer Zärtlichkeit, küsste ihre Hände, die sich immer noch gegen ihn reckten und immer wieder, und brachte nach

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