Mittelreich
einem schwarzen, tiefen Loch, und das Loch drohte, sie hinunterzuziehen in die Tiefe ...
Doch kurz vor der Ohnmacht sah die Brieftaube von tief unten aus dem Loch das Gesicht der Schwester Oberin vom Kloster Poing heraufschauen, deren immer müde Augen und ihr ausgesprochen dickes und fettes Gesicht und das Schwarze darin, diesen breiten flaumigen Bart, direkt unter der Nase, wie ein Streifen Dreck, oberhalb der Lippen, und ihre Bassstimme, so tief, dass alle immer glaubten, sie sei ein Mann.
Angst hatte die älteste Tochter des Seewirts jetzt keine mehr, als sie die Oberin erkannte. Irgendwie lag eine Gutmütigkeit in dem Fett und dem Gesicht der Schwester Oberin, so wie jetzt eigentlich auch. Jetzt war es nur etwas fremd. Und auch die Oberin sagte gern, wenn sie das Klassenzimmer betrat: What’s the matter? Und dann rannten alle auf ihre Plätze und packten die Vokabelhefte aus, denn die Schwester Oberin war zugleich die Englischlehrerin in der Klosterschule. Daran dachte die Brieftaube jetzt – nein! Sie sah es! Vor sich. Und auf einmal kam ihr Mut zurück, und aus der Tiefe des Vergessens stiegen die gelernten Vokabeln herauf, und sie hörte sich selbst in dieser fremden Sprache sprechen: Sie hatte sich in diesem Moment einer weit zurückliegenden Erinnerung bemächtigt, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt . Und jetzt redete sie und redete, als hätte sie genau für diesen Zweck, dem sie gerade diente, vor 35 Jahren diese Sprache erlernt. Sie bat den schwarzen Sergeant des feindlichen Militärs, in leicht nach vorne gebeugter, um Unterwürfigkeit bemühter Haltung, das kleine Dorf mit seinen einheimischen und einquartierten Bewohnern doch bitte unversehrt zu lassen. Sie könne versichern, dass im Ort kein Amtsträger des alten Regimes mehr versteckt sei, alle seien bereits geflohen, und der Geistliche aus dem Nachbarort Kirchgrub, zuständig auch für die seelsorgerischen Belange in diesem Ort Seedorf, hätte sich bereits bereit erklärt, auf dem Sportplatz am Seefeld einen gemeinsamen Friedensgottesdienst abzuhalten, wenn man das nur wolle. Sie habe gehört, auch auf der anderen Seite des Atlantiks sei die christliche Religion heimisch und nun sei es an der Zeit, nach all dem vorangegangenen Unheil, sich solcher Gemeinsamkeiten wieder zu entsinnen und das Vergangene ruhen zu lassen. That’s a good idea, sagte der Sergeant und öffnete sein Hemd über der Brust – und zum Vorschein kam ein kleines, silbernes Kreuz mit einem noch kleineren, noch silberneren Christus drauf, alles aus Aluminium und alles auf einer mächtigen Brust, die der Brieftaube noch schwärzer vorkam als das schwarze Gesicht. Und gerade deshalb, wegen dieses kohlebergschwarzen Untergrunds, leuchtete darauf das silberne Kreuz besonders glänzend, und ein Schauer der Ehrfurcht durchfuhr die Brieftaube: So wie ich jetzt müssen die Indianer Südamerikas vor den Spaniern gestanden haben, als diese zum ersten Mal ihr Land betraten, dachte sie.
Der Brieftaube aber konnte der Spuk nur kurz was anhaben, nur solange die Angst noch übermächtig war. Bald darauf kehrte ihre urtriebhafte Ablehnung der fremden Kultur wieder. Bei vielen anderen dagegen blieb dieser erste Eindruck für immer hängen und prägte ihr ganzes Leben.
Als der junge Seewirt aus der Bewusstlosigkeit erwachte, hatte er das Gedächtnis verloren. Jedenfalls gibt es von ihm keinen Bericht über die Wochen und Monate davor. Er sagte, die seien aus seiner Erinnerung verschwunden und er wünsche nicht länger danach gefragt zu werden. Ende.
Es gab Leute, denen erschien diese Auskunft doppeldeutig, und sie machten sich ihren eigenen Reim darauf. Die meisten aber gaben sich damit zufrieden, weil viele von denen, die irgendwann wieder nach Hause kamen, ähnlich forsch auf einem Gedächtnisverlust bestanden. Sie hätten so viele Entbehrungen hinter sich gebracht und so viele Ängste durchlebt, dass es kein Wunder, sondern normal sei, wenn man sich an die Dinge nicht mehr erinnere, sagten viele von ihnen. Und bald fragte auch niemand mehr danach. Alle waren mit dem Wiederaufbau beschäftigt, und was gewesen war, konnte sich ein jedes selber ausmalen, wenn es nur wollte. Man brauchte nur in die ausdruckslosen Gesichter der Heimkehrer zu schauen oder ihr oft seltsames Gebaren in den ersten Monaten nach ihrer Rückkehr zu beobachten, dann wusste man schon Bescheid und wollte nicht mehr wissen. Wer weiß, ob es nicht belastend für die Zuhörer gewesen wäre, wenn sie es
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