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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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plötzlich mit Geschichten aus den Kriegsgebieten zu tun bekommen hätten? Was die Propaganda von dort berichtet hatte, wird wohl so wahr nicht gewesen sein. Natürlich nicht. Bestimmt sind da auch Dinge passiert, die man lieber nicht so genau wissen will, dachten viele, und deshalb hatte die Fragerei auch bald ein Ende. Man schaute lieber optimistisch in die Zukunft.
    Nur die Heimkehrer behielten ihre unbeweglichen Gesichter. Eine Zukunft schien sie in den ersten Monaten und Jahren nicht recht zu interessieren. Einige sonderten sich ab. Andere gingen zwar in die Wirtshäuser, saßen da aber nur mit ihresgleichen zusammen, mit anderen Heimkehrern. Und sie steckten meistens die Köpfe zusammen und redeten leise miteinander, so leise, dass die an den Nachbartischen, die Älteren, nichts zu hören kriegten. – Die haben wahrscheinlich alle einen Schuss, so wie die da rumhocken und aus ihrer Wäsche schauen, sagte einer am Nebentisch, sind die vielleicht was Besseres, nur weil sie im Krieg waren? Ach lass die doch, sagte dann ein anderer, sonst kommen die glatt noch her. Das brauch ich aber nicht mehr. So bin ich nach dem ersten Krieg auch rumgehockt. Ich kenne das. Die sind halt schlecht drauf, weil sie den Krieg verloren haben. Aber so viel Schwermut verdirbt einem ja die Freude am Bier. Also lass sie in Ruhe!
    Man war ganz froh, dass sie sich separierten, und ließ sie gerne allein.
     
    Als der junge Seewirt erwachte, hing er im Beiwagen eines Kradmelders – hing, denn von Sitzen konnte die Rede nicht sein –, hing in sich zusammengesunken und mit dem Gesicht an eine kleine, verdreckte Windschutzscheibe gelehnt. Er schaukelte nach allen Seiten, schlug einmal vorne an, dann wieder hinten, je nachdem, welches der drei Räder gerade über einen Stein oder in ein Schlagloch fuhr, und spürte derart heftig einen dumpfen Schmerz im linken Oberschenkel, dass er gar nicht mitbekam, wie blutig sein Gesicht schon aufgeschlagen war vom ständigen Aufprallen auf die Windschutzscheibe. Der Soldat, der das Krad fuhr, reichte ihm ein verschmiertes Taschentuch in den Beiwagen und schrie gegen den Motorlärm an: Tu das mal weg! Du schaust ja aus wie der Jesus vom Isenheimer Altar! Er hatte am Arm die Binde der Sanitäter, und jetzt sah der Pankraz auch das Rote Kreuz auf dem Verdeck des Beiwagens.
    Was ist denn passiert?, schrie er zu dem Sanitäter hinüber, wohin fahren wir eigentlich?
    Wohin schon?, rief der, ins Lazarett! Oder willst du lieber heim zur Mama? Schau dir deinen Haxen doch mal an! Und das tat der Pankraz dann auch – und sah zum ersten Mal einen von seinen eigenen Oberschenkelknochen pur. Das brachte ihm eine neue Ohnmacht ein, die dann zu seinem Glück auch hielt, bis sie das Lazarett in Colmar erreicht hatten. Dort erwachte er wieder, und weil er jetzt wusste, was ihm weh tat, spürte er den Schmerz so ungeheuer, dass er brüllte, wie er sich selber noch nie hat brüllen hören. Schnell jagte man ihm eine Morphiumspritze ins Muskelfleisch über der abgebundenen Stelle des Oberschenkels nah am Unterleib, und bald war wieder Ruhe.
    Er lag da und sah starr nach oben zur Decke und sah die Risse in ihr, dachte, dass sie bald niederbrechen werde, und dann fiele der ganze Putz auf ihn herunter, und dass man die doch abstützen müsste, um das zu verhindern. Denn es ginge ja nicht nur um ihn, sondern um ihn herum, im Absturzbereich der rissigen Decke, lägen ja noch mindestens ein Dutzend andere. Und er richtete sich sicherheitshalber ein wenig auf, um zu sehen, wie viele es waren, und sah, dass er sich schwer verschätzt hatte. Denn es waren nicht ein Dutzend, die um ihn herum lagen, sondern mindesten fünfzig, und das in einem Raum, in dem doch ein Dutzend schon zu viele waren. Solche Sachen dachte er, um nicht an sein eigenes Schicksal denken zu müssen, denn das schien ihm unerreichbar, unausweichbar – nein – unertragbar, unsagbar – nein – unsäglich. Jetzt hatte er das Wort gefunden: Unsäglich. Er war irritiert, dass er so viele Anläufe gebraucht hatte, um den Gedanken korrekt zu beenden. Dass das vom Morphium kam, das konnte er nicht wissen. Er hatte bisher keine Erfahrung gemacht mit so was. Er kam vom Land.
    Dann kam eine Schwester, ein ehemals ganz feines, sauberes Fräulein, das sah er gleich, aber jetzt war sie mit Blut besudelt, von oben bis unten, wie man so sagt, und nichts Überhebliches war mehr an ihr und in ihrem Gesicht. Auch das sah er gleich, denn der Typus, den sie abgab, den kannte er

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