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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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landwirtschaftlichen Geräten, doch gelegentlich Hand anzulegen bei den vielfältigen Arbeiten, die anfielen. Es würde einen guten Eindruck bei denen hinterlassen, die gezwungen seien, zu zahlen, weil sie noch über Vermögen verfügten.
     
    So drängelte sich in dem kleinen Ort am See ein zu dauerhaftem Verbleib wild entschlossenes buntes Volk und fühlte sich nach ein paar Tagen schon heimischer als alle Einheimischen zusammen, drängelte sich bis unter die Dachziegel hinauf, und sogar die abgelebte, lang schon leer stehende Schlafkammer im Fremdenstall, die noch bis in die Zwanzigerjahre hinein den Postkutschern als einfache Unterkunft für jeweils eine Nacht gedient hatte, damit sie am nächsten Tag ausgeruht und mit ausgeruhten Pferden die Fahrt von der Landesgrenze in die Hauptstadt fortsetzen konnten, wurde durch einen Ausgebombten wieder belebt. Neue Öfen wurden aufgestellt, alte wieder instand gesetzt, denn bisher waren die Gästezimmer des Hauses nur im Sommer belegt und Heizkörper nur in zwei oder drei Zimmern für besondere, auch im Sommer frierende Gäste vorhanden – oder aber für jene vornehmen Nachzügler aus den gehobenen hauptstädtischen Vierteln, die ein paar Sonnentage am See ohne jeden Trubel erst im Herbst genießen wollten. Wo ein Kamin war, brannte nun ein Ofen, und die paar Bewohner des Hauses, in deren Zimmern es keine Heizmöglichkeit gab, hielten sich tagsüber und am Abend in der beheizten Gaststube auf. Es ging im Haus also drunter und drüber im wahrsten Sinn des Wortes, und dahinein platzte die Nachricht von der Verwundung des künftigen Hausherrn.
    Man wusste nichts! Nichts über die Art der Verwundung, nichts über deren Ausmaß! Das trieb die Fantasien der besorgten Angehörigen bis ins schlimmste Abseits. Fast jedes zweite Haus im Dorf hatte nach über fünf Jahren Krieg mindestens einen Toten zu beklagen, und es gab niemand, der nicht schon wenigstens einmal irgendwo auf der Straße oder in der Kirche einen Invaliden aus dem letzten Krieg gesehen hätte. Man konnte sich zur Genüge das Äußerste ausmalen, und keine 40 Kilometer entfernt, im Irrenhaus der Hauptstadt, vegetierte der andere, schon vom vorausgegangenen Krieg versehrte, erstgeborene Sohn des Hauses in geistiger Zerstückelung vor sich hin.
    Am härtesten traf die unvollständige und deshalb so unheilvolle Nachricht die Alte Mare. Sobald sie ihre Arbeit getan und ihr Abendessen aufgegessen hatte, verschwand sie in ihre Kammer, vor der schon der Lux auf sie wartete. Dort schlürfte sie in vielen kleinen Zügen einen lauwarmen Kaffee aus einer irdenen Schale, die sie in ihrer rechten Hand hielt, und durch ihre Linke schob sie, Fürbitte um Fürbitte, mit dem Daumen über den Zeigefinger hinweg eine Perle nach der andern eines abgegriffenen Rosenkranzes aus Perlmutt. Leise murmelnd beteten ihre Lippen, und aufmerksam hörte der Hund ihr zu. Zwischendurch unterbrach sie das Beten und erzählte laut vom Panki. Alle Bilder von seinem Aufwachsen und Erwachsenwerden, die ihr durch den Kopf gingen, teilte sie dem Hund mit. Das fiel ihr leichter, als mit Selbstgesprächen gegen die Ungewissheit anzureden. Sie sprach in ihrem alten Dialekt, und die Worte gruben sich von selbst aus der Tiefe ihres Ursprungs heraus. Vorsichtig und ängstlich wägend lösten sie sich von den schmerzlichen Gefühlen und ertasteten auf den Lippen der Mare den Weg in ihre Ausdrücklichkeit, bis sie Form geworden waren, um nun Schönheit und bereitgehaltenen Trost in den Erinnerungen der alten Frau allumfassend zur Sprache zu bringen. Mit gespitzten Ohren, wie ein aufmerksamer Zuhörer, schaute der kluge Lux mit dem einen, ihr zugekehrten Auge zu ihr in den hohen Lehnsessel hinauf, ohne zu blinzeln – denn er verstand alles, was die Mare ihm sagte. So sehr fand sie sich in ihrem Erzählen aufgehoben, dass sie bald einschlief und erst als der gusseiserne Ofen ausgekühlt war und sie zu frieren anfing, aufwachte und in ihr Bett ging. Still lag der Hund die ganze Nacht daneben in seinem Gestank und Wohlgefühl.
    Den folgenden Tag, wie alle anderen auch, begann sie um fünf Uhr früh mit einem Gebet, in das sie von nun an den jungen Seewirt noch inniger einschloss als sonst, und ging dann, wie unter eine schwere Last gebeugt, in den Stall an ihre Arbeit. So zog es sich wochenlang hin.
    Der Brieftaube legten Angst und Sorge um den Bruder ganz andere, eher organisatorische Bürden auf. Am Abend des Tages noch, an dem die Nachricht eingetroffen war,

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