Mittelreich
üblich war. Die Soldaten tun alles, was ihnen höhere Dienstgrade befehlen, üblicherweise. Und er ist ein höherer Dienstgrad. Selbstbezogenheit gilt innerhalb der Truppe als Wehrkraftzersetzung. Aber der Krieg geht zu Ende, das weiß er, er braucht sich nur in seinem Lazarett umzuschauen, was da an ausgedientem Fleisch herumliegt! Da müsste man nur einen Vergleich machen, und die Wehrmacht allen Lazaretten im Land und in den noch besetzten Gebieten und den Zuständen, die in ihnen herrschen, subsumieren, dann hätte man sehr schnell einen Begriff von der noch vorhandenen Wehrkraft. Von einer Wehrkraftzersetzung kann da keine Rede mehr sein, schon gar nicht, wenn ein Soldat sein Bein behalten will, selbst wenn er, der Oberstabsarzt, es abnehmen will. Die Wehrkraft seines Landes hatte sich schon von Anfang an selbst zersetzt, dadurch, dass sie eine Wehrkraft nie war, sondern immer nur eine Angriffskraft, dachte der Oberstabsarzt vor sich hin, da bedarf es keiner Aufsässigkeit mehr. Und schließlich hat er sich ja selber gerade zu einem wehrkraftzersetzenden Aperçu hinreißen lassen – er, der Oberstabsarzt höchstpersönlich.
Aperçu!, dachte er und kaute noch einmal herum auf dem Wort – Aperçu! Gebrauchen wir es ruhig, schließlich sind wir ja hier bald in Frankreich.
Der Oberstabsarzt! Ha! Auch schon zersetzt, dachte er, durch und durch.
Gut, wenn Sie das so wollen, dann soll es so sein, sagte er zum Pankraz. Sie müssen nur ein Papier unterschreiben, damit ich von Verantwortung frei bin, wenn Sie doch einen Abgang machen. Ich wünsch Ihnen alles Gute. Er gab dem Pankraz die Hand und verschwand im Gestöhn der herumliegenden Fleischklumpen.
Der Pankraz ist jetzt ziemlich irritiert und allein. Er hat mehr Widerspruch erwartet. Er hat gehofft, der Arzt würde nicht nachgeben und ihn aufklären darüber, dass er ohne Operation auf jeden Fall sterben wird. Denn natürlich will er noch nicht sterben, das hat er nur so gesagt, weil er sein Bein retten will, weil er nämlich gehört hat, dass die in den Lazaretten immer sofort amputieren, auch dann, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Denn ein Bein abschneiden macht weniger Umstände, als es gesund zu pflegen. Das hat er öfter gehört, von anderen Soldaten, die mit weniger aufwändigen Wunden ins Lazarett und nach ihrer Genesung wieder zurück an die Front kamen. Jetzt weiß er überhaupt nicht, was los ist. Er soll jetzt selber verantwortlich sein dafür, ob er weiterlebt oder stirbt. Er hat auf einen Amputationsbefehl gehofft, dann hätte er später eine gute Ausrede gehabt, vor sich und vor anderen. Er habe um sein Bein gekämpft, hätte er sagen können, doch habe er sich einem Befehlsnotstand beugen müssen. Aber er wäre auf jeden Fall am Leben geblieben. Jetzt steht er vor seinem selbstverschuldeten Tod.
So überfordert hat er sich bisher nur einmal in seinem Leben gefühlt: Als sein Vater erkannt hatte, dass der ältere Sohn zum Erbe des Anwesens nicht mehr taugte, und sich entschieden hatte, den jüngeren als Erbe einzusetzen. Da hat er den Pankraz ins Klavierzimmer geholt, das gleichzeitig auch das betriebliche Büro war, hat, nachdem der Pankraz eingetreten war, hinter ihm die Tür abgesperrt und gesagt: Du musst jetzt das Ganze weiterführen. Dein Bruder ist geisteskrank, der fällt aus. Ich sage dir aber gleich, entweder du machst es ganz oder gar nicht. Ich meine damit, dass du mit dem Singen aufhören musst. Wenn aber nicht, dann bekommst du vom Erbe gar nichts, nicht einmal ein Bargeld. Ich gebe dir eine Woche Zeit, dir das zu überlegen. Du kannst jetzt wieder gehen.
Und damit hat er die Türe vom Klavierzimmer wieder aufgesperrt.
In der folgenden Woche hat der Pankraz schwer mit sich gerungen. Er wollte unbedingt Sänger werden, aber er hatte Angst davor, nicht mehr abgesichert zu sein. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, wie er seinen Lebensunterhalt bestreiten sollte, wenn er nicht mehr zu Hause sein konnte. Er hatte nichts gelernt, außer daheim zu arbeiten. Er fühlte sich völlig überfordert. Drum hat er nach einer Woche seinen Berufswunsch aufgegeben und dem Vater zugesagt, den Hof zu übernehmen: aus reiner Existenzangst.
Gut. Damals ging es um einen Lebenstraum. Aber jetzt geht es ums Leben selbst. Er sitzt da, auf seinem Bett, und hat auf einmal Angst, Todesangst. Er kann nichts machen. Er muss dasitzen und warten, ob er einen Wundbrand kriegt und stirbt oder nicht. Wenn sie unter Beschuss gerieten, hatte er auch
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