Mittelreich
nun von der Gauleitung als Hilfskräfte angeboten wurden, lehnte man den Vorschlag rundweg ab. Man griff lieber für die Heuernte auf einquartierte Hausbewohner und Schulkinder aus Seedorf und den Nachbarorten zurück, Kinder von Nichtbauern, die im Sommer bei schönem Wetter vom fanatisch regimetreuen Lehrer Wegerich extra schulfrei bekamen, um den Lebensmittelnachschub an die Front sichern zu helfen. Angeleitet von dem alten Taglöhner Bräu konnten sie die leichteren Arbeiten auf dem Feld, wie Heuwenden, Anstreuen und Nachrechen, durchaus er ledigen. Mit diesem seltsamen Provisorium aus Weiberherrschaft, Gast- und Kinderarbeit, jedoch ohne die ausbleibenden weiblichen Sommergäste, die in den ersten Kriegsjahren noch singend und Kränze windend mithalfen, nun aber in den Lazaretten im Land und außer Landes in den noch besetzten Ländern ihren Dienst tun mussten, kam man beim Seewirt die letzten beiden Kriegsjahre ganz gut über die Runden. Aber allmählich, so war die sich langsam und immer mehr verbreitende Gefühlslage, wäre es an der Zeit, dass wieder Normalität einkehrte im Land. Man ahnte, dass der Krieg nicht mehr zu lange dauern würde, aber man sprach nicht darüber. Stumm, und deshalb immer anhaltender, wurde das Ende herbeigesehnt. Lautlos, wie Nebelschwaden, hing eine Aufsässigkeit in der Luft und giftete unhörbar gegen die Durchhalteparolen der Endsiegbeschwörer. Zuerst aufkeimend wie ein Gerücht, zuletzt herangewachsen zum Kuckucksei nistete im letzten Kriegsjahr in den Köpfen der ländlichen Zivilbevölkerung die Gewissheit, dass zwar der Hitler nicht das große Übel sei, aber umso mehr »die Hitler«. Man wollte endlich das Machtwort hören aus der Reichskanzlei, das die Kriegseinflüsterer wegfegen und dem Krieg ein Ende setzen würde. Man wollte die eigenen Kinder und Geschwister, die Nachbarn und Verwandten wieder zurückhaben, weil man sie liebte, noch mehr aber, weil man sie dringend zum Arbeiten brauchte.
Schon im vergangenen Sommer waren die Sommergäste ausgeblieben; sie wurden durch Einquartierte verdrängt. Im letzten April begann in unregelmäßigen Abständen die Bombardierung der Hauptstadt, die sich dann schließlich im Juni und Juli zum Dauerbombardement auswuchs. Die Hauptstadt war daraufhin in kürzester Zeit zu einer Ruinenstadt geworden, und die schrecklichsten Nachrichten vom Elend der Bewohner drangen hinaus aufs Land. Und mit den Nach richten kamen die Ausgebombten auf der Suche nach einer Bleibe.
Ein Erstes, das kam, war eine völlig ausgemergelte, mit Räude behaftete Straßenkreuzung zwischen einem Schäfer- und einem Wolfshund. Es wurde in kurzer Zeit von der Brieftaube aufgepäppelt und heimisch gemacht und erhielt den Namen Lux. Sobald ein Gewitter aufzog und der erste Donner zu hören war, verzog es sich in das Zimmer der Alten Mare und blieb dort, laut vor sich hin jaulend, bis das Gewitter verzogen war. Daraus wurde zügig seine Biografie abgeleitet, nämlich, dass es sich beim Lux um einen ausgebombten Hund handeln müsse.
Dem Lux folgten zahllose andere, ähnlich ausgemergelte Gestalten auf der Suche nach einer Bleibe: Der Maler und Schriftsteller Heidelberger, der Cellist und Dirigent Leo Probst, der Geiger Zigismund Bondy, die Kammersängerin Schweins, die Schauspielerinnen B. und D. Wieselfink, aber auch gewöhnlichere Menschen, wie etwa der Immobilienmakler März mit Familie, das ostpreußische Kinderfräulein von Zwittau, die Ingenieure Wieland und Freud – sie alle drängelten als Erste aus der ausgelöschten Stadt hinaus aufs Land und dort zu dem Kleinod am See, das alle schon von glücklicheren Zeiten her kannten, um vor den anderen, den Tausenden, da zu sein, die noch zu erwarten waren. Denn nicht nur die Hauptstadt war unbewohnbar geworden, auch aus den Ostgebieten, so die Wochenschauen, seien Millionen Menschen im Anmarsch, auf der Flucht vor und vertrieben von den bolschewistischen Barbaren. In jedem der wenigen Häuser am See, wo sonst in den Sommermonaten die Gäste untergebracht waren, waren nun Ausgebombte eingezogen und blieben – und nicht mehr nur den Sommer über. Die einen mehrten den Reichtum des Ortes dadurch, dass sie für ihren Verbleib zahlten, die anderen minderten ihn wieder, indem sie auf Pump lebten, weil ihnen nichts mehr geblieben war als das nackte Leben. Ihnen wurde höflich nahegelegt, als Ausgleich für kostenlose Unterkunft und Verpflegung, trotz aller zu erwartenden Ungeschicklichkeit im Umgang mit den ungewohnten
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