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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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ließ sie vom Pfarrer einen Bittgottesdienst in der kleinen Kirche am See ausrichten, zu dem sie, von Haus zu Haus gehend, mit dem ihr eigenen herrischen Gestus alle Dorfbewohner zu kommen bat. Wie schon in jener bereits wieder zehn Jahre zurückliegenden Brandnacht informierte sie über das Posttelefon andere Poststationen, die die Nachricht an alle Verwandten und Bekannten außer Orts weitergaben, so dass am Abend mehrere Einspännerpferde samt Gig an die Kirche angebunden und einige Fahrräder an sie hingelehnt standen, Transportmittel der von auswärts Gekommenen.
     
    Ob denn der Seewirtssohn etwas Besonderes und eine Granatsplitterwunde schon der Tod sei, murrten einige – allen voran der alte Fischer Schiern –, ein Rosenkranz am Abend sei doch normalerweise einem schon Toten vorbehalten. Trotzdem war die Kirche gut besucht. Der Cellist Probst spielte die Orgel und sang die Choräle, begleitet nur von der Hertha und der Brieftaube – Bassbariton, Alt und Sopran, und es gelang ihnen, mit den Fürbitten eine Aura der Innigkeit in den Kirchenraum zu verströmen, die schließlich, zumindest zum Teil, auch die anderen Besucher ergriff. Der Alten Mare standen spiegelnde Tränen in den Augen, und der Alte Sepp sah starr vor sich hin; der grimmige Schiern dachte aufgewühlt an den eigenen, noch im Feld stehenden Sohn; und die vollzählig erschienene Schar der Ausgebombten aus der Hauptstadt versteckte ihr geringschätziges Lächeln über den dünnen Gesang auf der Empore droben hinter zu Masken erstarrten, frommen Mienen.
    Die Tage vergingen, die Tatsache des Rückzugs der heimischen Soldaten von allen Fronten wurde regierungsamtlich umfassend geleugnet in immer durchschaubareren Propagandagewittern, die über die Volksempfänger auf die Menschen niedergingen, und nach und nach sank deren Kriegsmoral immer tiefer, bis hinab zu einer aufkeimenden Ahnung von der Sinnlosigkeit und dem möglichen Unrecht des Krieges: Vielleicht war doch alles ein Fehler? Vielleicht hätte man weniger auf die Fanatiker hören sollen!
    Als die Nachricht kam, dass ein feindliches militärisches Vorauskommando von Seestadt her auf das Dorf vorrückte, holte die Brieftaube ein weißes Laken aus dem großen Wäscheschrank, band es fest an einen Besenstil und machte sich auf den Weg Richtung Seefeld. Mit weit ausgestreckten Armen trug sie die selbstgemachte Parlamentärsfahne vor sich her, während sie laut ein Vaterunser nach dem anderen betete und ihr Herz von der Brust aus immer tiefer hinunter bis nah an den Rocksaum heranrutschte. Direkt über ihrem Kopf flatterte laut das leinene Betttuch im warmen Föhnwind, der an diesem Apriltag den tagelangen Nieselregen weggeblasen hatte, als sei es ein gutes Omen, und das flatternde Schnalzen der Parlamentärsfahne fand bald den Gleichklang mit ihrem flatternden Herzen. So schritt sie dahin und dachte auf einmal an die heilige Jungfrau von Orleans. Sollte sie doch zu Höherem berufen sein und der Moment jetzt gekommen, sich vor den Augen des Dorfes auf die Waagschale einer Ortsheiligen zu stellen, wenn nicht gar auf den Opfertisch einer Landeserretterin zu werfen? Mit diesen Gedanken an ein vielleicht vorbestimmtes Märtyrertum stiegen Tränen der Rührung in ihr auf und trübten ihre Augen, alles lag verschwommen vor ihr, und ihr war, als bewege sie sich durch tiefes Wasser auf ein überirdisches Ziel zu. Mit jedem Schritt schob sie sich weiter, so wie man sich im Sommer beim Baden, wenn man die tiefen Stellen des Sees schon schwimmend hinter sich gebracht hat, wieder Richtung Ufer schiebt, nicht mehr schwimmend, aber kraftvoll und federnd schreitend, mit hochgehobenen, leicht angewinkelten Armen, Schritt für Schritt, die Taube ... – und stand plötzlich vor einer grünlich verdreckten Uniform. Zwei müde Augen starrten sie an, und um diese Augen herum war alles schwarz: Ein vollkommen schwarzes Gesicht! So etwas hatte sie noch nicht gesehen! Beschwörend, als sei es ein großes Kreuz, hielt sie den Besenstil mit dem Leintuch krampfhaft vor die Erscheinung, und die Angst zog durch ihren ganzen Körper, und immer nachgiebiger wurden ihre Knie.
    What’s the matter?, sagte eine tiefe Bassstimme, die aus diesem dicken, fetten, schwarzen Gesicht kam, und immer noch müder schauten die Augen über der Stimme. Und als sie diese Stimme hörte, so nah an ihren Ohren, wurde das schwarze Gesicht vor ihren Augen noch schwärzer und schwärzer, und aus der Schwärze kam eine Nacht, und die Nacht wurde zu

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