Mittelreich
gut, von daheim, von den Sommergästen, und dieser Typ, blond und volle Lippen und so eine gestelzte Sprache, Hochsprechsprache, die waren in der Regel, also durch die Bank – oder wie sagt man? – durch und durch, Schmarrn, alle miteinander – ja, jetzt stimmt’s! – alle miteinander waren die arrogant, die bildeten sich unheimlich viel ein, weil die Väter meistens Doktoren waren oder Geheimräte oder Fabrikbesitzer und Anwälte, und die hatten ihn zwar immer ganz kokett angeschaut, manchmal sogar gierig, aber wenn er dann Anstalten gemacht hatte, dann hatten sie ihn gleich abblitzen lassen. Die kannte er gut. Die hatte er mittlerweile alle so was von gefressen, aber schon so was! Ja. Aber die sah jetzt ganz normal aus und redete auch ganz normal, als sie sagte: Ich bin die Assistentin vom Oberstabsarzt. Ich soll Ihnen sagen, wie es mit Ihnen jetzt weitergeht. Wie Sie sehen, sind Sie nicht der Einzige hier, und Sie sind auch nicht der Erste, der angeliefert wurde. Deshalb müssen Sie sich noch gedulden. Das geht jetzt einfach nicht anders. Es sind noch viel schwerere Verwundungen da, die wir vorziehen müssen. Es wird also noch zwei oder drei Tage dauern, bis wir Ihr Bein amputieren können. Aber bis dahin bekommen Sie genug Morphium, dass Sie die Schmerzen einigermaßen ertragen. Schlafen Sie jetzt ein wenig, wenn’s geht. Und damit zog sie wieder ab.
Amputieren!
Hat sie amputieren gesagt?
Die nächsten Tage lag er in einer ziemlich tiefen Depression, die nur vom Morphium gelindert wurde – wenn er denn eines bekam. Denn die Schwester hatte übertrieben, als sie das Wort genug gebraucht hatte: Es gab nur einmal am Tag eine Dosis. Und auch die zwei oder drei Tage, die es noch dauern würde bis zur Operation, waren schöngeredet, denn erst nach einer Woche kam der Oberstabsarzt und sagte: Morgen sind dann Sie dran, Herr Birnberger. Dann haben Sie zwar ein Bein weniger, aber es wird Ihnen besser gehen danach, glauben Sie mir, Schmerzen und Morphium fallen dann weg. Sie warten jetzt schon sieben Tage. Sie noch länger warten zu lassen, das wäre kontraproduktiv. Sonst werden Sie uns ja noch ein Morphinist. Oder wollen Sie das? Ein Morphinist im Reich reicht doch, oder?
Das hätte ihn auch den Kopf kosten können, den Oberstabsarzt. Denn mit diesem Satz zielte er auf den Reichsmarschall. Aber das wusste der Pankraz natürlich nicht, denn dass der Reichsmarschall ein Morphinist war, das wusste von der Landbevölkerung, salopp gesagt, keine Sau. Und deshalb war er weder wegen einer die Autorität untergrabenden Respektlosigkeit zutiefst erschrocken, noch schlug er sich wegen eines satirischen Bonmots genießerisch mit der Hand auf seinen zerschossenen Schenkel. Er hatte den Satz einfach nicht kapiert.
Die Geschichte seiner sieben Tage im Lazarett in Colmar hat er später erzählt, der junge Seewirt; die Tage vor der geplanten Amputation seines linken Beins. Die Schmerzen, die er ausgestanden hat, und die lange Zeit dieser sieben Tage, die sich hinzogen wie eine halbe Ewigkeit, weil die Schmerzen die Tage so lang machten, bis endlich am Abend das Morphium gesetzt wurde. Aber gerade das alles hat ihm sein Bein erhalten: Die lange Zeit, die er nachdenken konnte, und das wenige Morphium, das ihn seine Gedanken klar denken ließ, statt sie zu vernebeln. Ihm war in diesen sieben Tagen tiefer Niedergeschlagenheit und täglich wiederkehrender, oft unerträglich scheinender Schmerzen klar geworden, dass er leben wollte. Und zwar so, wie er bisher gelebt hatte: mit zwei Beinen. Er war fest entschlossen, die Amputation zu verweigern.
Und das sagte er jetzt dem Oberstabsarzt. Ihre Assistentin hat mir gesagt, dass ich keinen Knochenfraß, oder wie das heißt, habe, nur eine Entzündung im Gewebe. Dass das Bein also wieder gesund werden kann. Ich kann es mir nicht vorstellen, mit nur einem Bein zu leben. Deshalb gehe ich das Risiko ein, zu sterben, wenn das Bein nicht heilen sollte. Ich bitte Sie, mich nicht zu operieren, aber mich so zu versorgen, dass ich eine Chance habe. – So redete er. Man muss sich das mal vorstellen: so gebildet! Und so hätte er natürlich nie reden können, wenn er nicht im Seewirtshaus aufgewachsen wäre, unter all den gebildeten Sommergästen, die ihn den ganzen Sommer über bildeten, Jahr für Jahr.
Der Oberstabsarzt schaute ihn eine Zeit lang an, anfangs erstaunt, mit einer steilen Falte auf der Stirn. So ein selbstbewusstes Verhalten war er nicht gewohnt, weil es nicht
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