Mittelreich
Angst. Aber die war lang nicht so schlimm, denn sie hatten gleichzeitig kämpfen und Befehle umsetzen müssen. Die ganze Angst, auch die Todesangst, wurde sofort an den Unteroffizier oder den Kompaniechef delegiert – in Form eines Vertrauens. Und je heftiger die Angriffe und je fürchterlicher die Angst wurden, desto tiefer wurde dieses Vertrauen. Manchmal vertrauten sie sich diesem Vertrauen an, wie Kinder sich der Bettdecke anvertrauen, wenn sie sie über den Kopf ziehen, weil ein Geräusch im dunklen Zimmer zu hören ist. Jetzt aber ist er völlig allein.
Immer wieder, wenn eine der Schwestern in die Nähe kommt, hebt er die Hand, um auf sich aufmerksam zu machen. Als keine auf ihn achtet, beginnt er zu rufen, mehrmals hintereinander. Einer seiner Feldbettnachbarn raunzt ihn an, er solle eine Ruhe geben, die Weiber würden eh nichts von ihm wollen, von keinem hier drin, die seien nur scharf auf Offiziere, weil die ihre Glieder noch alle hätten, und zwar wirklich alle. Der, der das sagt, ist ein Nusser, einer, dem sie den Unterleib mit allem Drum und Dran weggeschossen haben. Endlich kommt eine bei ihm vorbei und fragt, was er will. Ich muss dem Fräulein Assistentin vom Herrn Oberstabsarzt etwas Wichtiges sagen, bitte, es geht um Leben und Tod. Können Sie mir die vorbeischicken? Bitte!
Die Schwester murmelt was und geht wieder. Tatsächlich kommt nach einiger Zeit die Assistentin. Sie ist für den Pankraz hier drin die Vertrauensperson geworden, sie ist jetzt sein Unteroffizier. Ich möchte vielleicht doch lieber operiert werden, sagt er, ich weiß nicht, aber vielleicht doch. Was meinen denn Sie? Die Assistentin ist freundlich, schaut ihn aber ein bisschen genervt an, das schon, und vielleicht sollte er sie nicht mit so was aufhalten. Die hat ja wirklich unheimlich viel zu tun da herinnen. Warum soll sie sich da noch um seinen Fuß kümmern, vielmehr um sein Bein. So heißt es in der Hochsprache. Bei ihm daheim sagen sie zu allem Fuß, nicht nur zum Fuß. Aber oben heißt es Bein. Auch das hat er bei den Sommergästen gelernt. Warum soll die Assistentin sich mit seinem Bein belasten – oder gar mit seinem Leben? Jetzt steigen ihm auch noch die Tränen auf, verflucht noch mal, so sehr hat ihn das Selbstmitleid schon gepackt. Hart kämpft er an dagegen. Ach nein, sagt er, entschuldigen Sie, sagt er, ich wollte Sie nicht aufhalten, ich bin mir nur nicht sicher.
Jetzt geht die Assistentin tatsächlich neben seinem Bett in die Hocke und schaut ihn an, nicht tief, aber sehr fachmännisch, wie er zu sehen glaubt, vielleicht auch nur sachlich. Schon wieder ist er sich unsicher. Das macht aber nichts mehr, denn die Assistentin spricht jetzt: Ich habe Sie vorher sehr bewundert, wie Sie mit dem Oberstabsarzt geredet und sich gegen die Amputation gewehrt haben. Auch den Oberstabsarzt haben Sie beeindruckt. Der hätte Ihnen nicht nachgegeben, wenn nicht eine Chance bestünde, das Bein zu erhalten (erhalten sagt sie, denkt er, nicht behalten. Sie denkt gesamtgesellschaftlich, denkt er, nicht individuell. Sie denkt nicht an mich, wie ich möchte, dass sie denkt, sie denkt nur so, wie sie denkt, dass sie denken muss. Na ja, denkt er, warum nicht?). Drum sollten Sie jetzt auch nicht aufgeben. Sie haben einen Granatsplitter oberhalb der Wunde im Muskelfleisch. Wenn sich da nichts entzündet, dann können Sie das Bein behalten – und den Splitter. Nur wenn eine Infektion auftritt, müssten wir den Splitter entfernen. Und das ginge nur durch eine Amputation. Warten wir also ab, was passiert.
Weil er so verzweifelt ist und ihn das Mitleid mit sich selbst beschämt, schaut er sie nicht an, während sie spricht, er hat den Kopf gesenkt und schaut durch tränentrüben Dunst ins Leere. Umso besser hört und spürt er ihre Worte, die ihm guttun, riecht ihr Fleisch, das atmet wie im Kelch der Wein, und trinkt die Worte wie den Wein und riecht den Fleischgeruch noch mehr und sieht jetzt, da sie aufsteht, sieht, wohin er sah und was ihn aufsaugt schon die ganze Zeit: die tiefe Furche in der Mitte ihres Dekolletés. Noch ein kleiner Augenblick und er hätte einem Drang, sein Gesicht hineinzubetten, nicht mehr widerstanden. Wie sie weggeht, durchschauert ihn der Verlust vertrauter Nähe, als hätte man ihm einen Fuß – halt: ein Bein ausgerissen.
Die Sehnsucht nach der Liebe hockte auf seinem Bett, unerreichbar wie die Gleichheit.
Tatsächlich blieb ihm das Bein erhalten. Drei Wochen später wurde das Lazarett in Colmar
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