Mittelreich
geräumt, und er wurde in ein umfunktioniertes Luxushotel am Gebirgsrand verlegt. Da blieb er noch vier Wochen, bis man ihn nach Hause entließ.
Glück gehabt, Soldat! Nicht einmal in eine Gefangenschaft bist du geraten. Nur der Splitter im Oberschenkel rührte sich die ersten Jahre noch bei jedem Wetterwechsel. Aber was macht das schon, wenn man dafür mit zwei Beinen in einem neuen Leben steht, in einer Demokratie.
Auf dem Lothof in Eichenkam wog das Schicksal das große Unglück, das es mit dem Tod der Mutter angerichtet hatte, mit einem großen Glück wieder auf. Sieben Kinder hat Lot mit seiner Frau gezeugt, nur eines war ein Sohn. Als die große, alles vernichtende Kriegsmaschine angeworfen wurde, musste auch der einzige Sohn einrücken, um sie am Laufen zu halten. Doch als das Schlachten beendet war, kehrte er unversehrt zurück. Und weil alle anderen seiner Kinder Töchter waren, blieben ihm alle.
So könnte man sagen, dass diese zwölf weltbewegenden Jahre nahezu spurlos am Lothof vorbeigegangen sind, dass nichts passiert ist, was ein Umdenken oder zumindest ein Nachdenken beschworen hätte. – Nichts? Doch, eine Kleinigkeit hat sich am Ende doch noch ereignet.
Bevor nämlich die Arbeits- und Vernichtungslager von den alliierten Verbänden befreit wurden, aber die Elite der Profiteure aus Industrie und Wirtschaft wie auch die Chargen und Mitläufer ab der zweiten Reihe der Politik schon wieder Tuchfühlung mit den kommenden Siegern aufgenommen hatten, um die eigene Stellung verlustarm in den Nachkrieg zu überführen, hatte die Phalanx der heimischen Mordverbände versucht, ein letztes Mal Profit aus den wenigen noch lebenden Geschundenen zu ziehen. In Todesmärschen wurden die schon fast Entleibten aus den KZ -Lagern heraus in Richtung Gebirge getrieben, wo sie eine Festung errichten sollten, in der sich der elitäre Kern der Nationalen Verbrecher vor den anrückenden Befreiern zu verschanzen gedachte.
In den Gegenden um die Hauptstadt in Richtung Süden wurden die guten und ordentlichen und einheimischen Menschen nachts von schlurfenden und klappernden Geräuschen geweckt. Und als sie die Fenster öffneten, sahen sie ausgemergelte Gestalten in gestreiften Sackleinen und mit Holzpantoffeln an den Füßen durch ihre Dörfer und kleinen Städte stolpern. Fassungslos auf dieses Elend schauend, von dem nichts gewusst oder zumindest nichts geahnt zu haben sie sich immer wieder eingeredet hatten, sahen manche ihren Widerstand gegen das Hinschauen gebrochen und ertappten sich dabei, wie sie den Vorbeiziehenden ein Brot oder eine Tasse Milch reichten. Andere sahen sich im Prinzip des Wegschauens bestätigt und schlossen ihre Fenster wieder, ohne Hilfe gegeben oder wenigstens einmal über die Unerhörtheit dieser eigenen, passiven Teilhabe an diesem einzigartigen und damit doch eigentlich denkwürdigen Verbrechen überhaupt nachgedacht zu haben.
So begann in diesen Tagen zum ersten Mal wieder ein spaltender Keil in diese seit zwölf Jahren fest zusammengefügte Volksmasse zu dringen: der Zweifel. Aber so sehr war er zwölf Jahre lang in Abrede gestellt worden, dass schon bald nach seiner Wiedererweckung Zweifel gegen ihn aufkamen: Ob denn alles, wirklich alles so daneben war, so falsch, so zweifelhaft. Bis heute erwacht dieser Zweifel immer wieder zu neuem Leben. Immer sieht er ein wenig anders aus, aber immer noch meint er das Gleiche: Kein Zweifel, nicht alles war falsch; woanders war es auch nicht viel anders; da gibt’s gar keinen Zweifel.
Unter den wenigen Häftlingen, denen die Flucht aus einem dieser Todesmärsche gelingt, sind zwei Polen, deren Suche nach Nahrung und einem Versteck sie auf den Lothof verschlägt. Der Bauer und seine drei jüngeren Töchter – die anderen sind schon verheiratet, der Sohn ist aus der Gefangenschaft noch nicht zurück – sitzen mit ihrem polnischen Zwangsarbeiter beim Abendessen in der großflächigen und niedrigen Küche, als sich in einem der kleinen Fenster vor dem Hintergrund der schwarzen Nacht – es ist erst Mitte Februar, und die Tage sind noch kurz – ein Gesicht abzeichnet, das mehr zu einem Totenschädel zu gehören scheint als zu einem lebenden Menschen. Theresa, die seit kurzem 34 ist, sieht das entstellte Gesicht als Erste und fängt vor lauter Weltabgeschiedenheit und Aufgehoben-sein-Wollen sofort und unbeherrscht zu schreien an. Als neben diesem einen noch ein zweiter Totenschädel auftaucht, verstummt sie plötzlich – und
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